Bölls „Relevanz“ als Klassenfrage. Plus: Rezension „Ansichten eines Clowns“.

Was ist eigentlich mit Heinrich Böll passiert? Also nicht mit der Person, ich weiß, dass Böll seit vielen Jahren tot ist. Sondern mit dem Böll Lesen. Nicht, dass ich es euch unbedingt nahe legen möchte. Böll ist ein im besten Fall ordentlicher, vor allem historisch interessanter Schriftsteller. Und ja, bereits in meinem ersten Semester an der Uni musste ich darüber diskutieren, ob Böll überhaupt noch relevant sei. Mein Dozent stritt das rundweg ab, während ich, frisch aus einer 12-Jährigen Dienstverpflichtung bei der Armee desertiert (genauer natürlich, den Kriegsdienst verweigert, was aus der Truppe heraus nicht ganz so stressfrei ist) Bölls „Ende einer Dienstfahrt“ hochrelevant fand. Ich hatte das Buch in einem offenen Bücherschrank gefunden und es traf mit seinen Beschreibungen all der hochamtlichen Absurditäten so viel von meinen Erfahrungen mit hochamtlichen Absurditäten bei der Bundeswehr, dass ich überhaupt nicht verstand, wie man die Relevanz dieses Autors abstreiten konnte.

Ehrlich gesagt: Ich verstehe es immer noch nicht bzw. verstehe es und halte es für falsch. Weil Böll durchaus relevant bleibt, nur nicht literarisch herausragend. Oder oft auch nur gut. Ja, mag sein, meinem Dozenten hätte es um ästhetische Relevanz gegangen sein können. Böll hatte in seiner Zeit dem literarischen Schreiben nicht viel Neues hinzuzufügen und hat das sicherlich nicht für die weitere Zukunft. Aber erstens hätte man das dann erklären müssen, insbesondere Erstsemestern und zweitens geht es an den Universitäten in den literarischen Studiengängen höchst selten bis nie um ästhetische Relevanz. Die Literaturwissenschaft ist die meiste Zeit Beackerung von Content. Teils begreift sie sich als Sozialwissenschaft für Mathematik- und Statistik faule, wobei höchst selten der Versuch unternommen wird, im Vorfeld die doch so wichtige Frage zu klären: Mit welchem Recht ziehen wir eigentlich aus fiktiven Texten recht unmittelbar Schlüsse zu sozialen Fragen ihrer Zeit? Und Teils ist sie Kanonbeackerung, oder ähnlich vorhersehbare Kritik des Kanons. Ästhetisches? Ähnlich relevant oder irrelevant wie Böll.

So präsentiert sich die Frage nach Bölls Relevanz dann durchaus in einem gewissen Sinne als Klassenfrage. Für Menschen, die aus Schichten kommen, die nicht wie gottgegeben mit Literatur zu tun haben, oder die in Böllsche Lebenssituationen gestolpert sind, kann der Autor heute inhaltlich noch sehr relevant sein. Seine Alltagsschilderungen aus dem Arbeiter- und kleinen Angestelltenmilieu oder eben aus der Bundeswehr treffen in ihren grundlegenden Situationen Probleme, die durchaus weiterhin bestehen. Ja, wir haben gesellschaftliche Fortschritte gemacht. Aber die grundlegenden Konstellationen, die Zwänge des Arbeitslebens, die Arten wie wir uns in persönlichen Verhältnissen gegenseitig verletzen und in diese Verletzungen manchmal viel Arbeit stecken, und ich bin mir sicher, trotz Aussetzung der Wehrpflicht auch der hochgradig absurde Alltag der Bundeswehr: Das ist geblieben. Und wenn nicht, habe ich mittlerweile von einem guten Freund erfahren, dass das Referendariat im Lehramt diesem Wehralltag in seiner Groteske recht ähnlich ist. Deutscher Amtshorror stirbt nicht aus.
Böll bleibt also – leider – relevant. Literaturwissenschaftler mögen das nicht erkennen, denn er schreibt keine Literaten-Literatur. Keine Bücher über Bücher.

Nun denn. Eigentlich wollte ich ja fragen, was mit Böll passiert ist. Denn zumindest dessen bin ich mir sicher: Als ich jung war, also so Anfang 20 und mich richtig in die Literatur gestürzt hatte, wurde Böll noch gelesen. Nicht nur in der Schule. Dort eigentlich sogar kaum. Nur die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral. Aber von jungen linken lesenden Menschen. In meinem engeren Freundeskreis weiß ich von mindestens drei Menschen, die außer mir fast alles von Böll gelesen haben. Nicht immer mit größter Begeisterung, aber doch mit Interesse und weil es halt irgendwie zur linken Sozialisation gehörte. Und heute? Steht in der rheinland-pfälzischen Onleihe, immerhin die wahrscheinlich größte Sammlung von Texten deutschsprachige Autorinnen und Autoren in Rheinland-Pfalz, kein einziger Roman von Heinrich Böll. Nur zwei Lektüreschlüssel. Und ich bin mir ehrlich gesagt ziemlich sicher, wenn ich mich unter politisch interessierten 20-jährigen umhören würde, hätte kaum jemand Böll gelesen. Das ist wie gesagt so schlimm nicht und liegt im zweiten Fall vielleicht vor allem daran, dass insgesamt weniger gelesen wird. Man muss Böll nicht lesen. Aber gerade, dass die Onleihe ihn nicht vorhält, ist schon aussagekräftig.

Nach langer Abstinenz zuerst wieder gelesen habe ich nun die „Ansichten eines Clowns“. Ich denke die gelten auch literarisch als einer der besseren Texte Bölls. Der Roman überzeugt mich höchstens in Ansätzen. Inhaltlich nicht ganz uninteressant. Ein nicht mehr ganz junger Mann, seit Jahren Clown, ist ziemlich abgestürzt. Schon lange nicht mehr so richtig erfolgreich hat er sich jetzt noch einen größeren Bock geleistet, ist pleite und hat erstmal keine Chancen auf Auftritte. Während er versucht, Eltern und der Ex Geld aus den Rippen zu leiern, reflektiert er sein Leben, was vor allem auf kritische Bemerkungen zur Gesellschaft und seinem Umfeld hinausläuft. Er fühlt sich übervorteilt. Die Welt sieht auf Clowns herab, besonders die Eltern haben ihm die Berufswahl niemals verziehen, und Marie, die frühere Geliebte, hat einen anderen geheiratet (und er, der Clown, bleibt ihr gegenüber massiv besitzergreifend). Es gibt ein paar starke Stellen, besonders die kürzeren Wutreden über gesellschaftliche Umstände, die sich wie eine nicht ganz schlechte Thomas Bernhard Imitation lesen, und ansonsten will man doch zumindest wissen, wie es weitergeht.

Was mich an dem Roman aber vor allem stört, ist, wie, irrelevant (um auf das Thema zurückzukommen) eigentlich die Clownsthematik ist. Ja, sie spielt eine gewisse Rolle für das Verhältnis zu den Eltern und der Erzähler behauptet mehrfach seine Nicht-Zugehörigkeit zu der Gesellschaft als Clown. Aber das war’s dann auch. Und selbst diese Dinge sind nicht superwichtig. Man könnte sich leicht einen anderen Beruf vorstellen, auf den die Eltern herabschauen, und die Nicht-Zugehörigkeit ist vor allem Behauptung. Ich glaube, ich müsste wenig am Text ändern, damit das Ganze inhaltlich genauso gut als „Ansichten eines abgehalfterten Versicherungsvertreters“ oder „Ansichten eines desillusionierten Volkshochschullehrers“ funktionieren würde. Und formal? Tja, wie gesagt, ästhetisch relevant war Böll eben noch nie. Form interessiert ihn glaube ich wenig, weder im Sinne einer Form, die tatsächlich dem Inhalt adäquat wäre, noch im Sinne einer Form, die mit großer Kraft durch den Text trägt. Clownisches ist da nichts an den Ansichten. Nicht im Rhythmus der Sätze, in ihrer Melodie. Nicht im Aufbau der Struktur. Nichts was tatsächlich mit der Idee spielt, dass hier ein Clown erzählen würde, noch dazu ein oft betrunkener, der nicht mehr arbeiten kann. Auch aus der einmal kurz aufscheinenden Idee, dass der Clown so etwas wie ein Hofnarr ist, und der Hofnarr der Welt den Spiegel in närrischer Weise vorhalten kann, wird eigentlich nichts gemacht.

Wenn ihr den Text irgendwo findet: Es gibt eigentlich kaum Gründe, den Roman nicht zu lesen, es sei denn man stört sich an dem ein oder anderen altbackenen Gedanken. Aber auf die Suche gehen würde ich nicht, es sei denn, um eine Bildungslücke zu schließen. Denn wie gesagt: Bis vor ein oder zwei Jahrzehnten war es noch beinahe Pflicht, Böll zu lesen. Selbst, als uns an den Unis schon beinah abgeraten wurde, haben wir es getan. Denn aus der Generation unserer Eltern hatte fast jeder, selbst die, die mit Literatur sonst wenig am Hut hatten, Böll gelesen. Und ich denke aus historischem Interesse gibt es, wie diese Serie noch zeigen wird, durchaus weiter gute Gründe dafür.

Bild: Pixabay.

2 Kommentare zu „Bölls „Relevanz“ als Klassenfrage. Plus: Rezension „Ansichten eines Clowns“.

  1. Danke für diese wirklich interessante Besprechung. Ich selbst bin ein Böll-Abstinenzler, obwohl ich noch aus einer älteren Germanistengeneration stamme. Ich habe nur „Wanderer kommst du nach“ und Kurzgeschichten „Haus ohne Hüter“ oder so, und in „Ansichten eines Clowns“ nur reingelesen. Freies Geleit und Katharina Blum, ja, aber ich empfinde deine Analyse zu Böll sehr treffend. Ich habe tatsächlich, unabhängig, überlegt „Ansichten eines Clowns“ zu lesen, um die Wissenslücke zu schließen, aber die ersten Seiten hatten etwas Muffiges. Danke für die Motivationsrede und Gegenwartsanalyse. Im übrigen, in meinem Umfeld hat keiner Böll gelesen, gar keiner, und momentan liest in meinem Umfeld auch kaum jemand, fast niemand. So viel zu meiner Literatursoziologie …

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