Die interessanteste Frage bezüglich Paul Zechs „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“ ist die nach der Zeit des Verfassens. Laut Wikipedia kann das nicht genau terminiert werden, der Autor behauptet, den Roman noch während des Krieges geschrieben zu haben. Doch selbst das ist natürlich eine längere Zeitspanne. Aber anscheinend bleiben Zweifel, ob der Roman nicht doch erst nach der Niederlage des Nationalsozialismus vollendet wurde. Ich kann nachvollziehen, woher diese Zweifel kommen.
Dass ich das die interessanteste Frage nenne, zeigt auch: literarisch hat der Text nicht sonderlich viel zu bieten. Denn normalerweise sollten ästhetische und nicht Fragen nach der Historie des Textes vorangestellt werden. Zech nennt seinen Roman einen „Tatsachen-Roman“, und das ist wenig besser, als ein Thesenroman. Ja, in großer Breite zeigt der Text, wie der Nationalsozialismus seine Gegner drangsaliert und tötet, und wie viele Menschen sich aus unterschiedlichen politischen und privaten Gründen den Nazis andienen oder schon ganz früh dabei waren. Er ist darin nicht schlechter, vielleicht sogar besser, als viele andere Anti-NS-Romane. Aber sind wir ehrlich: Wie viele Anti-NS-Romane sind denn tatsächlich gut? Die aus der frühesten Zeit sind größtenteils eben genau Thesenromane, oder Romane, die irgendeinen heldenhaften Widerstand in den Mittelpunkt stellen und darüber vergessen, dass der Nationalsozialismus eben nicht wie eine außerirdische Macht über Deutschland kam. Und die Texte danach sind eigentlich deutsche Klagen genau über diese außerirdische Macht und vergessen meist, wie übrigens auch die Widerstandstexte, den Antisemitismus. Oder machen ihn zu einer relativ vernachlässigbaren Größe unter all den Unterdrückungen, die „wir“ unter dem Nationalsozialismus zu erleiden hatten. Man kann Zechs Roman nichts davon vorwerfen. Allerdings auch nicht, dass er gut geschrieben wäre.
Nicht, dass „Deutschland, dein Tänzer heißt Tod“ nicht viele tragische Schicksale berichten würde, viele Angriffe und Verfolgungen, viele Momente also, aus denen Spannung erwachsen könnte. Doch der Text ist so unglaublich breit angelegt, was das Ensemble seiner Figuren betrifft, dass man kaum mit ihnen im Sinne einer Handlung mitfiebern wird. Jedes Kapitel scheint beinahe eine neue Geschichte anzufangen, und selbst die Haupthandlungen, die sich herauskristallisieren, etwa über einen Widerständler, der proletarische Flugblätter verteilt, in Gefangenschaft gerät und gefoltert wird, werden so selten wieder aufgegriffen, dass man nicht wirklich investiert. Wenn die Figur auf Seite 30 und dann wieder auf Seite 250 auftaucht – kann ich mir sicher sein, dass der Strang bis Seite 670 noch mal verfolgt wird? Oder war es das womöglich? Es macht deshalb auch wenig Sinn, stärker auf die Handlung einzugehen. Zahlreiche Figuren werden rund um die Reichspogromnacht eingeführt und unterhalten sich in ihren sozialen Zirkeln über das kommende. Soll man fliehen? Soll man bleiben? Gibt es noch Hoffnung auf Widerstand? Hat man Chancen, sich im Regime soweit anzupassen, dass man irgendwie durchkommt? Stürzt der Nationalsozialismus bald oder wird es wirklich ein tausendjähriges Reich? Und viel derlei mehr. Später trifft man Einige auch im Exil wieder. Noch mehr Zersplitterung. Darunter auch viele direkte Täterperspektiven von überzeugten Nazis ebenso wie Mitläufern, obwohl der ansonsten relativ zurückhaltender Erzähler keinen Hehl daraus macht, auf welcher Seite er steht. Viele krasse Szenen. Wer mit Brutalität nicht zurechtkommt, für den ist das kein Roman.
Aber am interessantesten bleibt wie gesagt die Frage nach der Zeit des Verfassens. Denn Zech trifft viele Dinge so richtig, von denen wir heute vielleicht sagen würden „na klar war das so“. Die aber wirklich fast alle anderen frühen und auch noch Nachkriegs Nnti-NS-Romane nicht gesehen oder ausgeklammert haben. Mit Ausnahme vielleicht von Jüngers symbolisch als Anti-NS-Roman zu lesenden „Auf den Marmorklippen“, der zumindest das Vernichtungspotenzial schon zu benennen wusste.
In „Tänzer“ steht der Antisemitismus im Mittelpunkt des Nationalsozialismus. Mehrere der kleinen NS-Protagonisten träumen bereits von der Vernichtung der Juden. Und sie können das, weil Hitler ausreichend angekündigt hat, in welche Richtung es gehen soll. In „Tänzer“ ist der Widerstand kommunistisch/sozialistisch, und gleichzeitig wird durchaus reflektiert, wie geschwächt die Arbeiterklasse einerseits durch Verhaftungen und Ermordungen, andererseits aber auch durch die vorhandenen Sympathien zahlreicher Arbeiterinnen und Arbeiter für den Nationalsozialismus ist (im 2. Teil wird die Perspektive dann aber zu optimistisch.) In „Tänzer“ haben zahlreiche Figuren und das „deutsche Volk“ in der Breite mindestens Sympathien für den Nationalsozialismus, zumindest ausreichend Sympathien, um sich schon mal Gedanken zu machen, welche Position sie im Regime inne haben könnten, und welche Aufstiege vielleicht möglich sind. Und nicht wenige unterschreiben das Programm, sei es aus ideologischen Gründen oder sei es, weil man hofft, dass der NS die eigenen Gegner beiseite schaffen oder einem zumindest dabei helfen wird. Dass ein Krieg unausweichlich sein wird, ist klar benannt. Aber auch die kommende Niederlage bereits zumindest angedeutet. Kurz: Auch wenn es absolut nicht undenkbar ist, dass so ein Roman bereits in der Folge der Reichspogromnacht hätte verfasst werden können, denn zumindest rückblickend lagen die Fakten auf dem Tisch: Angesichts der sonstigen Anti-NS-Literatur und ihrer offenkundigen Leerstellen wäre es deutlich leichter denkbar, der Roman wäre verfasst worden, nachdem sich die Niederlage des NS abzeichnete. Nicht unendlich lange nach dem Krieg, denn Paul Zech ist 1946 gestorben, aber eben doch mit dem Bewusstsein des Sieges über den Nationalsozialismus im Rücken. Mit Kenntnis von den Vernichtungslagern. Aber wie gesagt: Ein früheres Verfassen ist absolut denkbar, prinzipiell hätte ein solcher Roman wohl ohne weiteres über die späten 30er und frühen 40er Jahre entstehen können. Und andere deutsche Romane klammerten den Holocaust noch bis in die 80er weitgehend aus.
„Tänzer“ ist wie gesagt auch literarisch nicht schlechter als viele andere Anti-NS-Romane. Weshalb man sich durchaus fragen kann, ob es nicht genau der für die Deutschen wenig schmeichelhafte Inhalt sein könnte, der dafür sorgte, dass der Text lange nicht veröffentlicht wurde oder ob es nicht doch daran liegt, dass Paul Zech einfach so viel schrieb, dass man nicht alles veröffentlichen konnte. Denn ein Text im Sinne dessen, wofür Zech, wo er bekannt war, bekannt war, ist es eben definitiv nicht. Diese dichte kürzere Prosa, hochpoetisch, manchmal ein wenig entgleisend. Babei fokussiert auf spannende Erzählungen aus dem alltäglichen Leben. Davon ist hier nicht viel geblieben. Das hier die poetischste, ja, überhaupt die einzige derartige, Passage:
“Der Nebel hing von den Bäumen bis zur Erde herunter. Zwei Reihen Ulmen und dazwischen eingeklemmt das schmale, graue Band der Chaussee Berlin-Karow-Buch. Die Felder lagen tiefer, schienen schwärzer und verwischten ohne Grenze in ein feuchtes, dunkles Nichts. Die Lichter der Beamtensiedlung Falkenhorst waren weit hinten als ein schwerelos herumschwimmender Fleck angedeutet. Ein ortsunkundiger Mann hätte jetzt dort kaum eine menschliche Behausung vermutet. Es lastete ringsum eine absolute Stille. Vor zehn Minuten war das letzte Gefährt über die Chaussee gerollt, der Lieferwagen einer Käsegroßhandlung.”
Ansonsten berichtet der Erzähler. Das ist passiert. Das ist passiert. Der sagt das. Der denkt das. Und jetzt passiert das. Naheliegend, das Zech angesichts der Schrecken, die er beobachtete und berichtet, nicht weiter schreiben konnte wie zuvor. Vielleicht war ihm sogar selbst bewusst, wie auch die Avantgarden, in deren Fahrwasser er mitschwamm, zumindest Teils und zeitweise an diesem neuen Deutschland bauten. Und er wollte weitestmöglich weg von jedem Stil, der damit noch in Verbindung stehen könnte. Doch während man seinem „Tatsachen-Roman“ nicht absprechen kann, für einen Roman seiner Zeit relativ nah an den Tatsachen zu sein, bleibt vom Roman als Form zuletzt leider nicht mehr viel übrig.