Schluss, der an Figuren scheitert. Émile Zolas „Paris“.

“Paris” ist der dritte und letzte Band von Émile Zolas “Drei Städte” Trilogie. Ich hatte, nachdem „Rom“ zwar ein sehr interessanter, aber streckenweise quälend langsame Roman war und die Szenerie sich nicht so wirklich anfühlte wie aus einem Guss, noch einmal auf ein kraftvoll vor Augen gestelltes Paris gehofft, wie etwa in „Der Bauch von Paris“ oder „Das Werk“ im Rougon-Marcquardt Zyklus. Und sicher, verstreut im Buch gibt es noch eine einige schöne bildliche Szenen und Stadtanblicke, wie etwa diesen hier:

“Zu dieser Stunde war Paris unter den schrägen Strahlen der winterlichen Nachmittagssonne wie von leuchtendem Staub besät, als hätte irgendein unsichtbarer, in dem glänzenden Gestirn verborgener Sämann mit vollen Händen die zahllosen Körnchen ausgestreut, deren Goldstrom sich von allen Seiten herabsenkte. Das ungeheure bestellte Feld war damit bedeckt, das endlose Gewirr der Dächer und Bauwerke war nur noch ein Acker, dessen Furchen ein Riesenpflug gezogen hatte. Da Pierre trotz seines Missbehagens von einem unüberwindlichen Bedürfnis nach Hoffnung erfüllt war, fragte er sich, ob dieses von der göttlichen Sonne über Paris gesäte gleißende Licht nicht die gute Saat für die große zukünftige Ernte sei, die Ernte der Wahrheit und Gerechtigkeit, auf die er jede Hoffnung aufgegeben hatte.”

Insgesamt aber ist der Abschluss das schwächste Buch der Reihe und wenn auch kein solcher Totalausfall wie einige der frühen Werke, so doch zumindest eine kleine Enttäuschung. Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste: Zola gelingt es nicht, seinem Hauptthema, das diesmal die soziale Sprengkraft der schrecklichen Armut und des schrecklichen Kontrasts zwischen Reichtum und Armut ist, und daraus hervorgehend die Potenziale sozialer Revolutionen, besonders des Anarchismus, in der gleichen überzeugenden Weise zu Leibe zu rücken wie in „Rom“ der Religion und besonders dem Katholizismus. Während Zola wenig Sympathien für die Kirche hegen dürfte und Pierre sich von der Kirche immer weiter entfernt, schreibt Zola in „Rom“ über diesen Prozess doch mit der tiefsten Einsicht, weil er zumindest fast gleichwertig die Positionen von Katholiken aus allem Schichten der Kirchenhierarchie ausbreitet und mit der Pierres aufeinander prallen lässt, und ohne dabei allzu didaktisch zu werden, dialektisch verhandelt. Der säkularen sozialen Revolution dagegen, der sich Pierre zuwendet und der Zola näher stehen dürfte, bleibt der Roman seltsam fern. Gewiss, es werden die wichtigsten Theoretiker des französischen Anarchismus referiert, doch es wirkt, als habe der Autor zwar viele Katholiken persönlich gekannt, aber keine Anarchisten. So bleibt bei diesem progressiven Autoren der Anarchismus vor allem der Bürgerschreck der Bombenlegerei und der vollständigen Zerstörung, der er auch bei konservativen Autoren wie Dostojewski ist. Ja, in Wahrheit schreibt Dostojewski mit so viel mehr Einfühlung über den Anarchismus. Seine Anarchisten sind Menschen aus Fleisch und Blut, sie denken, fühlen und debattieren weit abseits auch dessen, was man in Handbüchern zu Bakunin und Proudhon finden kann. Zolas Anarchisten bleiben Archetypen, es ist schwer mit ihnen zu fühlen.

Zur Handlung: Pierre ist jetzt komplett vom Glauben abgefallen aber weiterhin Priester. Er engagiert sich sozial, der erste Teil hält sich vor allem mit dem Versuch auf, einen halbtoten armen Familienvater einen Asyl-Platz zu verschaffen. Als es endlich gelingt, ist der Familienvater allerdings ganz tot. Diese Rundreise durch Paris ist wirklich stark und kontrastiert noch recht überzeugend Armut und Reichtum. Das Ganze endet mit einem Bombenattentat, in das Pierres Bruder Guillome verwickelt ist. Die Versöhnung mit dem Bruder, der in den ersten Romanen praktisch nicht vorkommt, ist der Kern des Romans.

Hier offenbart sich die zweite Schwäche. Viele Figuren sind einfach nicht besonders stark. Und ausgerechnet der Bruder. Dass die beiden so entfremdet sind wurde kaum vorbereitet. Im Roman kommt dann die Aussöhnung aber ganz schnell. So dass auch hier die Grundlage für die Aussöhnung kaum gelegt werden kann. Ja, es gibt immer wieder anrührende Stellen, besonders als Pierre feststellt, dass er sich in das deutlich jüngere Mündel des deutlich älteren Bruders, Marie, verliebt. Die hatte eigentlich geplant, den Bruder in einer Vernunftehe zu heiraten. Und für den Bruder war das doch ein wenig mehr als Vernunft…

Aber apropos Marie. Wo ist Marie? Also, nicht diese Marie. Es gab ja eine Marie im ersten Roman, „Lourdes“. Auch für die hatte Pierre festgestellt, dass er mehr als Freundschaft empfand und einer seiner größten Kämpfe war, zu verstehen, dass wenn er Priester bliebe und das Wunder von Lourdes Marie heilte, sie in die „richtige“ Welt überwechseln würde, Männerbekanntschaften haben, vielleicht heiraten.

Nein, „Die drei Städte“ sind sicher keine Serie, wie man sich eine moderne Romanreihe vorstellen würde. Diese doch so wichtige Marie wurde in „Rom“ noch nicht einmal erwähnt, was sich gerade noch verschmerzen lässt. Vielleicht hat Pierre sie so sehr verdrängt? Aber wenn ich nun schon zurück nach Paris kehre und dennoch diese Marie komplett vergessen möchte, ist es wirklich eine gute Idee, eine zweite Figur mit dem gleichen Namen zu schaffen, die den Protagonisten vor ganz ähnliche Fragen stellt?

Dritte Schwäche: Politik. Ähnlich wie mancher früher Rougon-Marcquardt-Roman spielt sich die Nebenhandlung, in moderner Terminologie der B-Plot, erneut vor allem in politischen Sphären ab. Parlamentssitzungen, Mauscheleien abseits des Parlaments unter Parlamentariern. Und dabei handelt es sich um Skandale und politische Ränkespiele, die vielleicht zeitgenössisch interessant gewesen sein mögen, in diesem Detailgrad heute aber nur noch langweilen. Da geschieht nichts Wegweisendes, das in die Zukunft ausstrahlt, das zeitlos bedeutend wäre. Ein Eisenbahn-Skandal, ein Politiker möchte seiner Geliebten eine Rolle beim Theater verschaffen, eine Mutter und eine Tochter aus hohem Hause streiten um den gleichen Geliebten. Mit den Schwächen des Hauptplots könnte „Paris“ immerhin noch ein relativ lesenswerter Abschluss der Trilogie sein. Doch dadurch, dass der Nebenplot fast genauso viel Raum einnimmt, mit Figuren, die weder uns noch unsere Protagonisten ernsthaft berühren, ist es ein höchstens noch durchschnittlicher Roman. Mit immer wieder starken Passage, mehr aber leider auch nicht.

Das Kapitel der Hinrichtung Salvats etwa hebt folgendermaßen an:

„Die Nacht war wunderbar friedlich und hell. An dem reinen, weiten Himmel stand der Vollmond wie eine glänzende Silberlampe und ergoss über das schlafende, sich in unermessliche Weite ausbreitende Paris sein ruhiges, traumhaftes Licht ins Unendliche. Man hätte denken können, es handle sich um die heraufbeschworene verzauberte Stadt des Schlafs, aus deren Ermattung nicht einmal mehr ein Flüstern aufstieg. Ein Meer von Milde und Ruhe bedeckte und wiegte sie und schläferte bis zum Sonnenaufgang das dumpfe Brausen der Arbeit und den Schrei des Leidens ein, während man da drüben in einer entlegenen Vorstadt im stillen damit beschäftigt war, ein Fallbeil aufzustellen, um einen Menschen zu töten. In der Rue Saint-Eleuthere blieben Pierre und Guillaume stehen und betrachteten das in märchenhaftem Schimmer schlafende, verschwimmende, zitternde Paris des Vergessens. Als sie sich umwandten, erblickten sie im Licht des Vollmonds die Basilika von Sacre-Coeur, der zwar noch immer die Kuppel fehlte, die aber bereits ungeheuer massig wirkte. In der klaren, weißen Helligkeit, die die Konturen scharf hervortreten ließ, indem sie sie von den großen schwarzen Schatten abhob, erschien die Basilika noch wuchtiger, so dass sie unter dem blassen Nachthimmel wie eine herausfordernde, stolze, alles überragende ungeheure Blüte aussah. Nie war sie Guillaume so riesenhaft vorgekommen, nie hatte sie sogar das schlafende Paris mit eigensinnigerer, erdrückenderer Macht beherrscht.“

Das klingt gut. Es wird fortgeführt als ein plastischer melancholischer Streifzug durch das frühmorgendliche Paris, die beiden Brüder auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz. Den Höhepunkt markiert die Exekution als morbides Volksfest. Ein ganz starker Text. Aber wie viel besser wäre das, wäre Salvat zuvor als Figur ausgestaltet worden. Er ist aber bloß seine Rolle, „Anarchist“. Und so erinnern selbst noch die gelungenen Passagen von „Paris“ an die Schwächen des Romans.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

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