Ich habe mich mehrfach an einer Einleitung für das hier versucht und sie ist dann immer (in der Länge) eskaliert. Also in Kürze: Auf Twitter ging vor einiger Zeit mal wieder ein Beitrag über die zehn besten Fantasy-Reihen herum, der viel Bekanntes enthielt und neben Der Herr der Ringe noch einige der großen dicken Bücher, also unter anderem Sanderson, Rothfuss und was weiß ich nicht noch. Das fand ich schwach, denn viele dieser Texte sind im erzählerischen Aufbau und stilistisch höchstens Mittelmaß, ich denke das literarische Stärkste auf der Liste waren Der Erdsee Zyklus von Ursula K. Le Guin. Also wollte ich dem Ganzen mal eine eigene Sammlung entgegenstellen (die Liste finde ich allerdings nichtmehr, daher steht der Text jetzt allein). Dabei sollte Der Herr der Ringe wirklich die Niveauuntergrenze sein, ohne den Rest von Tolkiens Werk, das literarisch oft stärker ist, stünde er nicht auf der Liste.
Das Problem: dafür muss ich Fantasy definieren. Und wenn ich Fantasy relativ eng definiere, regen sich alle auf, denn „Fantasy sperrt sich gegen Definitionen und eigentlich ist doch alles, was irgendwie magische Momente hat, Fantasy“. So werden dann ganze Literaturtraditionen wie der magische Realismus oder die märchenhaften russischen Erzählungen eingemeindet, die mit der Genese der modernen Fantasy relativ wenig zu tun haben.
Nähme ich das aber beim Wort und füllte meine Liste mit den Arthur-Zyklen, Gogol, Garcia Marquez, Ben Okri und wem nicht noch alles, wäre die Enttäuschung wahrscheinlich auch groß: „Wieso stehen keine Fantasy-Romane auf dieser Liste? Wird die Fantasy mal wieder nicht ernst genommen?“
Deshalb arbeite ich hier a) mit der ganz berühmten Arbeitsdefinition des US Supreme Court zur Pornografie: „I know it when I see it.“ Machen wir uns nicht vor. Jeder Begriff hat unscharfe Randbereiche, doch wenn wir von Fantasy und nicht von Phantastik reden, wissen 95% von uns ziemlich genau, welche 95% der Bücher definitiv darunter fallen. Um die geht es. Aber um es b) auch relativ technisch zu fassen: Es geht um im literaturhistorischen Sinne moderne Romane, die im Bewusstsein geschaffen wurden, etwas nicht faktisches in einer fiktiven Welt zu erzählen, und die entweder eine fremde, eine vormoderne oder magische Parallelwelt, ausmalen und/oder wenn sie in unserer Welt spielen eine zumindest rudimentäre Systematik des Magischen aufweisen. Nun gibt es sicher immernoch ein paar Texte, die durch die Maschen dieser Definition gleiten, ohne anderswo im weiten Meer der Phantastik einen sicheren Hafen zu finden, aber sei’s drum.
Serie definiere ich dagegen recht großzügig: Mindestens zwei Bücher mit gemeinsamem Universum.
Noch eine Einschränkung: Auf die Liste schaffen es natürlich nur Texte, die ich gelesen habe. Während ich auf dem Feld der sogenannten “E”-Literatur (was “ernst” heißen soll und leider nicht “elektrisch”) mit einer Sicherheit von deutlich über 90% bereit wäre, eine “definitive” Top 10 zu präsentieren, sind es hier trotz breiter Lektüre wahrscheinlich höchstens 70%, zumal viele interessante neue Fantasy auch in Klein- oder Selbstverlagen erscheint und leicht unter dem Radar fliegt.
Ein interessanter Kandidat der Beschreibung nach wäre sicher zB die „Herbstlande“-Reihe, und auch wenn der zweite Teil von „Alendia“ endlich erschiene, hätte er Chancen auf diese Liste. Schweren Herzens nicht mit reingenommen habe ich „Fairwater„/“Das Licht hinter den Wolken„, die sich die gleichen „Hallen des Schicksals“ zu teilen scheinen, aber sonst wohl doch zu unabhängig voneinander sind, um von einer Serie zu sprechen. Aber zwei ganz starke Romane, die ihr euch dennoch vormerken könnt. So, und jetzt, ungeordnet:
Der Vrénalik Zyklus (Esther Rochon)
Reihe kürzerer Romane rund um eine Insel, die ein Fluch oder der Aberglauben der Einwohner vom Rest der Welt abgeschnitten hat. Vier sehr unterschiedliche, atmosphärisch sehr dichte und sprachlich elegante Romane, von denen drei auch einzeln herausragende Lektüre sind. Fantasy (bis kurz vor Schluss) ganz ohne den ewigen Kampf und die Weltenreiterei.
Earth Sea (Ursula Le Guin)
Ebenfalls Fantasy, die weniger auf Krieg und große Kämpfe schaut und mehr darauf, wie Figuren zu sich und zur Welt stehen. Besonders im ersten Teil reißt die manchmal an Stabreim-Dichtung anklingende Sprache mit.
Die Elric-Novellen (Michael Moorcock)
Düstere dichte Erzählungen aus einer nur diffus zu greifenden Welt, der Verfall aus jeder Pore trieft. Selten wurde über große Themen so ausdruckstark in der kleinen Form geschrieben. Auch wenn man die Inhalte längst wieder vergessen hat, bleiben die Bilder in Schattierungen von rot und schwarz wie alte Metal-Plattencover.
New Sun Tetralogie (Gene Wolfe)
Man mag streiten, ob das Fantasy ist, und nicht Science Fiction, doch die Welt wird als fantastische präsentiert und die Figuren erleben sie eher als von Magie denn von Technik durchdrungen. Kaum eine Fantasyreihe ist so klug aufgebaut und so sehr aufs Wesentliche fokussiert. Auch sprachlich oft von seltener Schönheit.
Naturgeschichte der Drachen (Marie Brennan)
Eine viktorianische Welt mit kleinen Abweichungen, die wichtigste: Drachen.
Fantasy, die sich auf das Forschen konzentriert, auf soziale Beziehungen und die Frage, wie man sich zur Gesellschaft stellt, in der man lebt, während Kämpfe und Kriege eher offstage gefochten werden. Eine der glaubhaftesten Welten & eine Hauptfigur, die tatsächlich als Figur ihrer Zeit erfahrbar wird, nicht als modernes LeserInnen-Surrogat.
Das Jahr des Greifen (Bernard Hennen und Wolfgang Hohlbein)
Zwei Autoren, von denen man keinen Titel in dieser Liste erwarten würde. Aber dank der detaillierten DSA-Welt im Hintergrund einer der ganz wenigen Fantasyromane, die sich die dümmlichen Reiseführer-Passagen und das Heldenreise-Schema sparen und relativ erwachsene Geschichten aus einer Welt heraus erzählen, die genau so einfach da ist, wie eben die Welt des nicht fantastischen naturalistischen Romans.
Gormenghast (Mervyn Peak)
Auch für diese Reihe gilt, dass zwar keine explizite Magie vorhanden ist, die Romane als vormoderne Parallelwelten sich aber klar nach Fantasy anfühlen.
Die Texte werden oft als Neu-Barock beschrieben und bestechen durch den Fokus auf glaubhafte Figuren und ihre Konflikte, sowie eine ganz starke Atmosphäre. Der dritte Teil ist eher verwirrend als gut.
Der kleine König Kalle Wirsch (Tilde Michels)
Jepp, dieses schöne kleine Kinderbuch, das wie kaum ein anderer Text die Stimmung eines klassischen Mythos transportiert, hat einen zweiten Teil. Der ist für sich nichts besonderes, aber gut genug, um die Reihe vor allem dank des ersten Teils in diese Liste zu hieven.
Die Vandarei-Romane (Joy Chant)
Wäre die Liste ein Wettlauf, diese Reihe startete mit deutlichem Rückstand. Red moon and black mountain ist streckenweise hübsch aber auch generisch und teils chaotisch. Doch The Grey mane of morning und When Voiha wakes sind zwei der stärksten fantastischen Romane überhaupt. Besonders Voiha, dem zu seiner Welt endlich mal was gänzlich anderes einfällt als Machtkämpfe und Welt retten.
In zwei der drei Romane gibt es keine ausdrückliche Magie, so dass sich die Zugehörigkeit zur Fantasy sicher bestreiten ließe. Ich berufe mich hier auf das Kriterium der vormodernen Parallelweltlichkeit.
Die literarischen Mittelerde-Texte (J.R.R. Tolkien)
Obwohl Der Herr der Ringe das Vorbild fast aller klassisch modernen Fantasy ist, steht dieser Kosmos hier trotz, nicht wegen diesem Roman. Denn der ist erzählerisch phasenweise ein solcher Backstein, dass er durchaus auch viele der Vorurteile gegen Mainstream-Fantasy rechtfertigt. Aber der erweiterte Kosmos ist so gut und nicht zuletzt, wie ich hier und hier zeige, auch ästhetisch so stark entwickelt, dass das Gesamtwerk auf diese Liste gehört.
Bild: „Rheinauen / Avalon“ (eigenes).
Ich mag es, mit welcher Akribie du das Genre behandelst. Ich bin mehr ein Fantasy-TV-Serien-Konsument, aber deine Besprechungen machen mich stets neugierig! Tolkien jedoch, den einzigen der obigen Roman-Serien, die ich gelesen habe, fand ich nachgerade wegen seiner Backsteinhaftigkeit toll. Ich mag das ausufernde World-Building. Hierzu war deine Wheel-of-Time Besprechungsserie auch sehr hilfreich. Vielen Dank dafür und viele Grüße!
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Tolkien ist ja schlank im Vergleich zu WOT.
Sein Worldbuilding ist aber mE gar nicht so ausufernd, es funktioniert gerade, weil er diese ganzen Hintergünde ausgearbeitet hat & die den in LotR nur durchschimmern, in Liedern, Gesprächen usw.
Der pseudoalte Stil ist aber gerade im Vergleich mit seinen dahingehend mE stärker gearbeiteten Werken nach dem Auenland nur noch schwer genießbar & besonders der Infodump in Elronds Rat ist wirklich schwach.
Ich frage mich manchmal, ob er diese Bücher wirklich mochte. LotR ist ja schon eine ziemliche Popularisierung dessen, was Tolkien eigentlich mal vorschwebte.
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Das Auftauchen von „Das Jahr des Greifen“ lässt mich innerlich aufjubeln. :-) Aus meiner Sicht gehören dann auch der erste Roman „Der Scharlatan“ von Ulrich Kiesow sowie diverse von Jörg Raddatz, Ina Kramer oder der geschätzten Lena Falkenhagen dazu. Sicherlich nicht unbedingt wegen ihrer literarischen Qualität, sondern allein wegen meiner allgemeinen DSA-Nerdigkeit und dem mittlerweile beachtlichen „Lore“-Hintergrund, zu dem eben diese Romane mit beigetragen haben. Die DSA-Romane machen immer noch einen beachtlichen Teil meiner Bücherregale aus. ;-) Ich müsste die Reihe eigentlich mal weiterlesen. Oder neu anfangen …
Ähnlich siehts mit den „Drachenlanze“-Romanen aus den „Forgotten Realms“ von Weis und Hickman aus. Die wären auch eher aus Kult- bzw. Nostalgiegründen in meiner Liste. Vielleicht auch, weil ich persönlich wenig Probleme mit der klassischen Heldenreise in der Fantasy habe.
Viel mehr Probleme habe ich mit meinem einstigen Lieblingsgenre, weil es den Autorinnen und Autoren darin offenbar nicht mehr gelingt, sich kurz zu fassen, und Fantasyliteratur nur noch als Drei-, Sechs-, Neun-, Zwölf-, Fünfundzwanzig- oder Einundrölfzigteiler erscheint, was letzten Endes dazu führt, dass Autoren ganze Teams einstellen müssen, die überprüfen, ob das alles noch halbwegs kohärent ist, was sie da schreiben und dass es bis zur Fertigstellung einer Reihe oft Jahre dauert. Und manchmal länger. Martin, Rothfuss et. …
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Das Problem mit den DSA-Romanen ist halt ihre stark wechselnde Qualität. Das Jahr des Greifen ist trotz einiger Passagen, die wirken wie nicht redigiert und hastig dazwischen geschustert stilistisch noch einer der besseren. Zuletzt habe ich zwei thematisch eigtl interessante Texte rund um einen Machtkampf der Magiergilden (Sphärenschlüssel & … kA…) gelesen, und alles was mit Magie zu tun hatte las sich, als beschreibe wer ein RPG, dem er zuschaut („er setzte einen Magietrank ein“ usw.).
Das ist schade, denn die detaillierte Welt eines geteilten Universums hat so große Vorteile, wenn man vernünftige Literatur verfassen möchte und keine Reiseführer.
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