Die Gelegenheit, dass über eine mittelmäßige Verfilmung aus Mittelmaß-Erde gestritten wird, als stünde das Ende der Welt bevor, was, naja, aus ganz anderen Gründen, ja durchaus nicht allzu weit hergeholt sein muss, habe ich genutzt, um mich endlich einmal wieder mit den ursprünglich nicht veröffentlichten erzählenden Texten JRR Tolkiens zu beschäftigen. Ich muss das meiste irgendwann einmal gelesen haben, vielleicht so zwischen 15 und 18 Jahren. Denn ich besaß mal eine, ich glaube vierbändige, Ausgabe, mit Silmarillion und drei weitere Büchern, von denen ich nicht mehr sicher bin, welche Texte die genau enthielten. Da mir die beiden Bände der Lost Tales neue sind, ich mich aber ganz dunkel an Berén, Luthien und die Kinder von Hurin erinnere, sollte es sich um die Unfinished Tales und möglicherweise zwei weitere Bücher der History of Middle Earth (damals natürlich auf deutsch) gehandelt haben. Ich finde die Ausgabe nicht mehr, vielleicht kennt sie ja jemand. Sie hatte einen blass violetten Grundton, und darauf in der typischen Herr der Ringe Schrift den Titel in schwarz und weiß, ich glaube mit einigen düsteren Zeichnungen.
Unfinished Tales
Ich habe mit den Unfinished Tales angefangen, und muss sagen, dass mich die Stärke einiger Geschichten aus diesem Band überrascht. Der fragmentarische Charakter und das in anderen Werken oft exzessive Bestreben von Christopher Tolkien, die Arbeiten des Vaters zu erklären und wissenschaftlich einzuordnen, kommt diesem Band und Tolkiens Idee eines plausiblen fiktiven Mythenkomplexes sehr zugute. Besonders die beiden Hauptgeschichten „Of Tuor and his Coming to Gondolin“ und „Narn i Hîn Húrin (The Tale of the Children of Húrin)“, die recht ausführlich aber mit einigen Lücken präsentiert werden, könnten in Stil und Darbietungsweise tatsächlich neuere Überlieferungen uralter Legenden aus einer glaubhaften vergangenen Welt sein. Tolkien schreibt expressiv, arbeite mit starken Bildern und sein fingiert altertümlicher Stil findet hier vielleicht seine besten Anwendungen. In Der Herr der Ringe funktionierte das nie so richtig, einerseits, weil sich der Stilmix zwischen recht modern klingenden Hobbits und langen Infodump-Passagen beißt, andererseits auch, weil dieser Stil in seiner wenig anschaulichen Weise nicht unbedingt taugt, um 1000 Seiten voll zu schreiben. In den Unfinished Tales arbeite Tolkien deutlich kondensierter und das Altertümliche gewinnt eine Poesie, die Der Herr der Ringe, mag sein, hier und da, auch innewohnt, die dort aber oft unter Textmassen und Textwüsten erstickt wird. Anders als andere hinterlassene Schriften sind die Texte der Tales zudem absichtsvoll dunkel gelassen. Auf Hintergrundereignisse in Mittelerde und Valinor wird hier und da angespielt, ohne dass allzu viel erklärt wird, sodass man tatsächlich den Eindruck gewinnt, etwas zu entdecken, das an vielen Stellen dunkel bleibt und die Vorstellungskraft anregt. Neben den beiden Haupttexten ist ähnlich stark noch die kurze Geschichte von Amrod und Nimrodel erzählt, die einen Teil der ansonsten von Christopher Tolkien eher langweilig kompilierten Geschichte (lies: „Historie“, nicht „Erzählung“) von Galadriel und Celeborn bildet, sowie die Numenorische Erzählung „Aldarion and Erendis: The Mariner’s Wife“, die Geschichte eines Königs und Seemanns, der darüber seine Frau immer mehr vernachlässigt und so einen der vielen Gründe für die wachsenden Spannungen in Numenor säht. Viele andere Texte dagegen haben mit „unvollendeten Geschichten“ wenig zu tun, sondern sind doch vor allem Zusammenfassungen und Zeitlinien. Dennoch könnte dieses Buch ein guter Einstieg in Tolkien abseits von Der Herr der Ringe sein, und tatsächlich fände ich zehn oder zwanzig solcher Geschichten deutlich interessanter als diesen Wälzer voller Kompromisse, der zwar von der Stoßrichtung her gar nicht so generische Fantasy ist, wie viele seine Epigonen, dessen Botschaften von Melancholie, Verfall und der Ablehnung des Krieges, außer wenn die äußerste Notwendigkeit besteht, dann aber doch leider allzu oft unter Männlichkeitsgebaren und Schlachtengedöns untergeht, so dass, glaube ich, viele Leserinnen und Leser die „tiefere“ Idee hinter Tolkiens Werk niemals wirklich entdeckt haben, und das nicht wirklich aus ihrer Schuld heraus.
Lost Tales
Weniger begeistert bin ich vom ersten Buch der Lost Tales, die ich mit Hoffnung auf mehr vom Gleichen begonnen habe und stattdessen eine ältere Version des Silmarillion vorgefunden habe. Die ist durchaus insofern interessant, als dass es eine Rahmenhandlung gibt, und hier ein Erzähler aus der Welt der Menschen die Geschichten von verschiedenen Elben erzählt bekommt, während Christopher Tolkien, weil er nicht anders kann, jeweils im Anhang jedes einzelne Detail, in dem sich die Geschichten vom Silmarillion und anderen Geschichten unterscheiden, ausgiebig kommentiert und uns dabei auch noch ein paar Gedichte seines Vaters vorstellt. Dabei möchte ich nicht sagen, dass dieses Buch nicht auch seine erzählerisch interessanten Momente hat. Die Eingangsszene im „Cottage of lost play“ ist in ihrem märchenhaften Tonfall für Tolkien relativ einzigartig, und diese Hütte wurde in späteren Texten nicht wieder aufgegriffen. Auch einige Bilder sind stark, insbesondere wenn sie mit Licht zu tun haben, und die Welt, wie sie nach der Zerstörung der Lampen vorgestellt wird, da goldenes und silbernes Licht und Schatten wie Flüsse durch die Welt wabern, aufsteigen, herunter regnen und so weiter und so fort, ist so faszinierend, dass man sich wünscht, es könnte in dieser Welt tatsächlich Geschichten geben, die diese besondere Form des Lichts in ihre Handlung integrieren. Die Beschreibungen dieser Seltsamen vorgeschichtlichen Welt sind, soweit ich es in Erinnerung habe, deutlich umfangreicher als später im Silmarillion.
Aber ja… Geschichten. Das ist eben das große Problem. Götter taugen in den seltensten Fällen zu guten Geschichten, es sei denn, sie sind wie die nordischen oder die griechischen vor allem vergrößerte Menschen mit all ihren Verrücktheiten und Trieben. Tolkien hat das mit seinen Göttern versucht, kann es aber nie wirklich durchführen, da zugleich sein christliches Weltbild ihn immer wieder dazu zwingt, die Menschlichkeit und damit die Geschichtenfähigkeit seiner Götter stark einzuschränken, und der schwierigen Lösung des Theodizeeproblems in einer von einem prinzipiell guten Gott geschaffenen Welt gerecht zu werden. So breitet das erste Buch der Lost Tales dann vor allem Ereignisse aus, die selten über einen Konflikt hinaus kommen, indem Melko, dem hier noch dass „R“ fehlt (später Melkor/Morgoth), einfach irgendwie böse ist, aber doch Teil des großen Plans, und die anderen Götter sich zwar manchmal nicht grün sind, aber vor allem in guter Weise Teil des großen Plans. All das wird in diesem pseudobiblischen Stil erzählt, der grandios klingen soll, aber über viele hundert Seiten dann doch eher langweilt. Kaum eine Figur schält sich (anders als unter nordischen oder griechischen Göttern) auch nur im rudimentären Sinne als Individuum heraus, und entsprechend sind die Texte für Menschen, die Literatur suchen, Geschichten von gelungener ästhetischer Gestaltung, ähnlich wenig ergiebig wie die Götterkapitel im Silmarillion selbst, und interessant vor allem für solche, die Literatur vor allem als Informationen über eine fiktive Welt begreifen, über die es noch den letzten kleinen Hintergrund zu erfahren gilt.
Die zweite Hälfte der Lost Tales ist ein gänzlich anderes Werk. Endlich gibt es wirklich Geschichten zu erzählen, von Helden mit großen Ambitionen, Menschen mit tragischen Schicksalen, unsterblicher Liebe, und all das immer bedroht vom ewigen Bösen, das von Melko (weiterhin ohne „R“) ausgeht. Hier kann Tolkien ähnlich glänzen, wie bereits in den Formvollendeteren der Unfinished Tales.
Der Band eröffnet mit der ersten und vollständigen Variante der wahrscheinlich berühmtesten Erzählung Tolkiens, die nicht im dritten Zeitalter spielt (genauer, die nicht „Der Herr der Ringe“ oder „Der Hobbit“ ist). Die Geschichte von Berén und Luthien, die hier allerdings noch The Tale of Tinuviél heißt. Tinuviél ist der Name der Protagonistin, die später Luthien sein wird und Tinuviél nur noch als Beinamen trägt. Es handelt sich dabei um ein wunderschönes Kunstmärchen. Der bei den Elben Thingols unbeliebte Elb Berén (der in späteren Fassungen ein Mensch sein wird, was der Liebe größere Fallhöhe verleiht), verliebt sich in den Tanz von Tinuviél, und hält am Hof des Vaters um ihre Hand an. Der, halb im Scherz, verlangt dafür einen der Silmaril aus der Krone Melkos. Berén nimmt das ernst und gerät in Gefangenschaft, Tinuviél rettet ihn, und über mehrere Verwicklungen hin bringt man endlich den Silmaril, doch Berén stirbt, weshalb Tinuviél zu Mandos geht wie Orpheus zu Hades, und um sein Leben bittet.
All das ist ein wirklich herrliches Kunstmärchen. Und ich benutze bewusst diesen Begriff aus der Romantik, denn an diese hochstilisierten Versuche, die äußerste Schönheit aus Märchenstoffen heraus zu destillieren, erinnert die früheste Variante der Erzählung. Hier findet sich praktisch nichts von dem hohen Ton, dem Pseudoepischen, dass die Erzählungen aus den Unfinished Tales dominiert und auch spätere Varianten des Stoffes. Stattdessen scheint alles zu glitzern und zu schillern. Die Elben erinnern eher an das lustige Volk unter dem Hügel, das man aus irischen Mythen kennt, sind dabei allerdings deutlich graziöser als im Hobbit. Magie ist stets mit Gesang und Tanz oder handwerklicher Tätigkeit wie dem Spinnen verbunden, statt wie später in die Gefangenschaft des Necromancers (Thu/Sauron) gerät Berén in die Gefangenschaft gewaltiger Katzen, und Tinuviél befreit ihn mit Hilfe eines Hundes (der bleibt späteren Fassungen erhalten). Christopher Tolkien zeigt im ausgedehnten Kommentar, wie Grundzüge der späteren Handlung größtenteils schon vorhanden sind, dennoch dürften die stilistischen Unterschiede am stärksten ins Auge fallen, das Verspielte, das kindlich Zauberhafte, das dieser Geschichte innewohnt. Außerdem ist der Berén und Luthien-Stoff natürlich ein gutes Beispiel dafür, dass Tolkien über das Gesamtwerk in Geschlechterfragen längst nicht so konservativ agiert, wie in Herr der Ringe und Hobbit, wo Frauen größtenteils durch Abwesenheit oder Zurückhaltung glänzen. „The Tale of Tinuviél“ dreht das klassische Damsel in Distress-Motiv um, die meiste Zeit ist es Tinuviél, die handelt, und Berén, der befreit werden muss. Auch Melko und seine Vasallen tanzt die Elfe in den Schlaf, und selbst noch die Geschichte von Orpheus stellt Tolkien im Schluss in der Erzählung auf den (geschlechtspolitischen) Kopf.
Auch die zweite Erzählung ist eine alte Bekannte, eine frühe Version der Kinder des Hurin. Hier klingt schon stärker der epische Tonfall an, während viele Handlungselemente noch deutlich zufälliger wirken, als in der ausgefeilten aber dafür nicht vollständigen Variante aus den unvollendeten Geschichten. Auch in diesem Fall lohnt die Lektüre beider Texte, so unterschiedlich sind die jeweiligen Werke. Wer aber eine literarisch gelungene Variante sucht, liest die aus den Unfinished Tales und füllt die Lücken anderswo. So geht mW auch der Einzelband „The Children of Hurin“ vor.
Die nächste Erzählung ist die einzige vollständige Version von Tuors Ankunft und dem Fall von Gondolin (vgl. Unfinished Tales). Beim Lesen wird schnell klar, warum Christopher Tolkien den Abbruch der späteren Unfinished Tale als ein Unglück bezeichnet. Die unglaublich kraftvollen Bilder des späteren Textes fehlen hier völlig, und wer die ganze Gondolin-Geschichte will, tut gut daran, so lange es geht dem Pfad der späteren Erzählungen zu folgen. „The Fall of Gondolin“ ist mit den vielen „nows“ und „thens“, mit denen jeder neue Schritt der Erzählung eingeleitet, wird geradezu langweilig repetetiv.
„The Nauglafring“ zuletzt ist die etwas generisch wirkende Geschichte eines verwunschenen Schmuckstücks der Zwerge. Sie gibt den Anlass für einen längeren Streit zwischen Elben und Zwergen. Thematisch werden darin vorangegangene Erzählungen zusammengeführt.
Schließlich enthält das Buch noch eine längere Diskussion der einzelnen Entwürfe der Geschichte von Eärendil, die leider Abseits der kondensierten Version für das Silmarillion niemals fertiggestellt oder auch nur ausgedehnter begonnen wurde. Leider, denn hier fände sich eigentlich nicht nur der Abschluss der Lost Tales, sondern potentiell auch einer der schönsten Texte Tolkiens. Eine Art Pendant zu Odyssee, das mit seinen Motiven von der Suche nach den Unsterblichen Landen, der späteren Idee vom Hilferuf für Mittelerde an die Götter und schließlich dem Segeln über den Weltenrand, um zum Abendstern zu werden, sowie dazwischen zahlreichen eher märchenhaften magischen Begegnungen hätte ein herausragender fantastischer Text werden können, verspielt und dennoch voller Bedeutung. Hier die vollständige Outline „B“ nach Christopher Tolkien:
„First part. The tale of the Nauglafring down to the flight of Elwing.
Second part. The dwelling at Sirion. Coming thither of Elwing, and the love of her and Färendel as girl and boy. Ageing of Tuor-his secret sailing after the conches of Ulmo in Swanwing
Eärendel sets sail to the North to find Tuor, and if needs be Mandos. Sails in Eärame. Wrecked. Ulmo appears. Saves him, bidding him sail to Kôr -for for this hast thou been brought out of the Wrack of Gondolin.
Third part. Second attempt of Eärendel to Mandos. Wreck of Falasquil and rescue by the Oarni. He sights the Isle of Seabirds ‚whither do all the birds of all waters come at whiles‘. Goes back by land to Sirion. Idril has vanished (she set sail at night). The conches of Ulmo call Eärendel. Last farewell of Elwing. Building of Wingilot.
Fourth part. Eärendel sails for Valinor. His many wanderings, occupying several years.
Fifth part. Coming of the birds of Gondolin to Kôr with tidings. Uproar of the Elves. Councils of the Gods. March of the Inwir (death of Inwë), Teleri, and Solosimpi.
Raid upon Sirion and captivity of Elwing.
Sorrow and wrath of Gods, and a veil dropped between Valmar and Kör, for the Gods will not destroy it but cannot bear to look upon it. Coming of the Eldar. Binding of Melko, Faring to Lonely Isle. Curse of the Nauglafring and death of Elwing.
Sixth part. Eärendel reaches Kôr and finds it empty. Fares home in sorrow (and sights Tol Eressea and the fleet of the Elves, but a great wind and darkness carries him away, and he misses his way and has a voyage eastward).
Arriving at length at Sirion finds it empty. Goes to the ruins of Gondolin. Hears of tidings. Sails to Tol Eressea. Sails to the Isle of Seabirds.
Seventh Part: His Voyage to the firmament.
Aber vielleicht ist es so schlimm nicht, dass der Text nie geschrieben wurde. Wie bereits angedeutet macht die Brüchigkeit letztendlich die Überzeugungskraft der fingierten Mythologie aus, und wir wissen genug über ihren Eärendil und seine Welt, als dass wir uns diese sozusagen wirklich verlorene Geschichte vorstellen könnten.
Zwischenfazit
Ich habe in diesem Essay viel Gutes und einiges Negatives über das literarische Werk von Tolkien gesagt. Für Fans mag es großartig sein, doch für den literarischen Ruf des Autors sogar eher kontraproduktiv, dass Christopher Tolkien es für nötig hielt, wirklich alles Geschriebene des Vaters irgendwie ans Licht ziehen zu müssen. Denn wenn man sich durch diese Textmassen arbeitet und dabei eben auch immer wieder hunderte Seiten quälend langweiliger Passagen hinter sich bringen muss, vergisst man leicht, dass es auch literarisch wirklich Gelungenes in diesem über Der Herr der Ringe und Der kleine Hobbit hinausgehenden Werk zu entdecken gibt. Und das Projekt des fingierten Mythos ist ein hochgradig faszinierendes, das Tolkien phasenweise überraschend gut gelingt. Liest man die oben schon besprochenen großen Geschichten, die beiden Hauptwerke und dazu vielleicht noch einige der Erzählenden Gedichte, wie Die Abenteuer des Tom Bombadil und die Lays of Beleriand (zu denen ich noch kommen werde), dann entsteht vor dem inneren Auge ein durchaus faszinierender Kosmos aus Mythen und Legenden aus verschiedenen Zeitaltern, die auch wirken, wie zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Personen niedergelegt. Der Reichtum der Welt, die so simuliert wird, dürfte bis heute in der Fantasy weiterhin einzigartig sein, das Ganze fühlt sich tatsächlich, wie ich zuletzt aus meinem Deep Dive in die Arthurepik bestätigen kann, sehr glaubwürdig an. Und gerade in den älteren Schichten gereicht Tolkien sein krasses Nerdtum bezüglich der Linguistik und älterer Varianten des Erzählens, über das die bekannteren Werke manchmal stolpern, zum großen Vorteil.
Eine entscheidende Einsicht bezüglich jeder Adaption, über die ich ansonsten weiterhin keine Lust habe, viele Worte zu verlieren, ist dabei auch mitzunehmen:
Das einzig Kanonische ist der Widerspruch. Denn das Gesamtwerk steht absichtsvoll im Widerspruch zu sich selbst. Es ist genau wie bei der Bibelinterpretation. Es dürfte unmöglich sein, sich auf eine richtige Interpretation zu einigen, aber der Text selbst gibt uns vor, dass die einzig definitiv falsche Interpretation die wörtliche Interpretation ist. Denn wie die Bibel in ihren späteren Büchern frühere Bücher interpretiert, und zwar ausdrücklich nicht wörtlich, legt auch Tolkiens Werk sich immer wieder selbst aus, und zwar ebenso nicht wörtlich, und widerspricht sich in den Details und teils sogar im groben Rahmen einzelner Geschichten. Zudem gibt uns Tolkien immer wieder Überlieferer an die Hand, etwa Bilbo Beutlin, als der, der den Hobbit und Teile des Herr des Ringe aufgeschrieben hat, oder im Falle der Lost Tales gar eine doppelte Erzählerkonstruktion – Ælfwine, der die Erzählungen verschiedener Elben niederschreibt. Und man darf sich ziemlich sicher sein, dass diese Widersprüche nicht einfach Überbleibsel der Unvollendetheit sind, und, hätte Tolkien gelebt um sein Werk zu vollenden und zu publizieren, getilgt worden wären. Im Gegenteil wusste der Autor als Experte für ältere englische Literatur sehr genau, dass es diese Widersprüchlichkeit ist, die die fiktive Authentizität der Mythen für Lesende verbürgt, dass es genau die Erfahrung ist, dass man unterschiedliche Geschichten von Berén und Luthien ebenso wie von Tristan und Isolde in unterschiedlichen Formen der Darbietung (Prosa, Vers, kurzes Gedicht, längeres Lay), entdecken und vergleichen kann, die Lesenden das Gefühl gibt, selbst in alte Schriften einzutauchen.
Nun gibt es innerhalb eines solchen Rahmens durchaus immer noch Dinge, die man in einer Adaption nicht bringen könnte oder sollte, es sei denn – Meisterregel aller Fiktion – man macht es meisterhaft (zB Blade Runner vs Do Androids dream of Electric Sheep). Und es gibt viele kleinere Dinge, die man falsch machen kann.
Dieser Streifzug durchs Werk abseits von LotR und Hobbit soll nun nicht zu einer Verteidigung eines alles in allem recht mittelmäßigen Franchise-Projekts eines kapitalistischen Oligopols werden. Aber dieses Projekt ist aus sich heraus zu kritisieren, aus seiner Erzählweise, aus den werkinhärenten Momenten, die die Welt möglicherweise künstlich wirken lassen, Cinematographie, CGI, Spiel, was auch immer. Der Adaption vorzuwerfen, dass sie der bisherigen „Überlieferung“ widerspricht, steht wahrscheinlich dem „Geist Tolkiens“ stärker entgegen, als noch die heftigsten Abwandlungen und Neu-Erfindungen es könnten. Tolkien hat niemals einen neuen Text aus Mittelerde verfasst, der den bis dahin verfassten nicht in irgendeiner Weise, oft deutlich, widersprochen hätte.
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