Ein großer düsterer Traum, in den viele kleine Träume eingeschlossen sind – so lässt sich „Dein ist das Reich” von Abilio Estévez vielleicht am besten prägnant beschreiben. Fragt mich nicht, wie ich diesen Roman gefunden habe. Vielleicht war er in meiner lateinamerikanische Literaturgeschichte erwähnt worden. Denn ansonsten sind das deutsche und das englischsprachige Internet sehr geizig mit Informationen zum Autor. Selbst die spanischsprachige Wikipedia hat nur eine kleine Seite, bei der die Liste der Veröffentlichung und Auszeichnungen den sonstigen Text bei weitem überragt.
Woran liegt das? „Dein ist das Reich” zumindest ist ein Roman, der es verdient, mit den anderen Großen der lateinamerikanischen Literatur auf Augenhöhe genannt zu werden. „Das grüne Haus“, „Hundert Jahre Einsamkeit“, „El siglo del Luz“, „Paradiso“. Es handelt sich um einen seltsamen, schwer durchdringlichen Roman, der auf einer Insel spielt, deren Bewohner wirken wie Ausgestoßene, Ausgewanderte und Vergessen. Der ausführliche Innentext des Einbands gibt einen zutreffenden ersten Eindruck:
““Die Insel“ ist eine Ansammlung schäbiger, langsam verfallender Häuser in Marianao, einem Vorort von Havanna. Sie besteht aus dem „Diesseits“ – den Häusern und einem verwilderten Garten voller nachgemachter antiker Skulpturen – und dem „Jenseits“, dem angrenzenden Wald, durch den verwachsene Pfade zum nahen Meer führen. Eine eingeschworene Gemeinschaft bewohnt die Häuser der „Insel“: die Barfüßige Gräfin, die wie eine Königin im Exil mit anachronistischer Eleganz durch den Garten streift und apokalyptische Visionen hat; Onkel Rolo, ein alternder homosexueller Buchhändler, der auf dem Bahnhof Anschluß zu finden hofft; seine Schwester Helena, die für Ordnung auf der „Insel“ sorgt, und ihr Sohn Sebastián, der einem rätselhaften, verwundeten Matrosen begegnet; der schwarze Bäcker Merengue, der auf der Suche nach seinem Sohn Chavito ist; Casta Diva, die ihrer Karriere als Sängerin nachtrauert; Irene, deren Gedächtnis sich immer mehr verflüchtigt, bis sie sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnert, und andere Gescheiterte, Zukurzgekommene. Abilio Estévez verwebt all diese Episoden und Personen miteinander und schafft das halb reale, halb mythische Bild eines Ortes mit wuchernden Pflanzen und Geschichten. Ein Ort der Täuschungen und Alptraumvisionen, der den Naturgewalten ausgesetzt ist und über dem eine nicht greifbare, sich verdichtende Drohung hängt.”
Estévez stellt uns diese Insel zuerst vor einem großen Unwetter vor. Am späten Abend, die Luft schwer von Feuchtigkeit, die Figuren sich in unterschiedlicher Art und Weise auf das Gewitter vorbereitend. Viele haben das Gefühl, beobachtet zu werden, oder hören sogar Geräusche, die nahelegen, dass ein Unbekannter über die Insel streift. Einige finden Blut und schließlich wird ein Verwundeter gefunden, der nicht von Kugeln, sondern von Pfeilen verletzt wurde…
Mit dem zweiten der vier Großkapitel weitet sich die Zeit sowohl in die Zukunft, als auch in die Vergangenheit. Zu den unmittelbar auf der Insel spielenden Episoden kommen Erinnerungen hinzu, etwa die Geschichte von Martha und Mercedes, die als Kinder mit dem Vater an einem Friedhof wohnten und den Friedhof zu ihrem fantasiereich Lisania werden ließen. Oder die vom jugendlichen Sebastián, der eine alte Bibliothek entdeckt.Wir erfahren von Rolos größter Liebe, von der Vergangenheit der Opernsängerin und vielem anderen mehr. Darunter auch die Geschichte von der Gründung der Insel durch ein inzestuöses Geschwisterpaar, die dann aber gleich wieder von einer der zuhörenden Figuren als melodramatisch und unglaubwürdig kassiert wird.
Dabei bleibt die Insel ein großes Mysterium. Einerseits scheint sie ein realer Ort innerhalb Kubas zu sein. Mancher der Protagonisten verlässt sie noch, um Menschen anderswo zu besuchen oder verließ sie in der Vergangenheit, um seiner Arbeit nachzugehen. Auch einige größere Ausflüge, etwa ins Nachtleben von Havanna und auf einen turbulenten „Jahrhundert-Jahrmarkt“ finden statt. Zugleich scheint die Insel Kuba selbst zu sein, ein symbolischer kubanischer Mikrokosmos, sozusagen ein fantastisches Kuba im realen. Das Verhältnis der beiden Kubas bleibt fluide und ist nicht gänzlich zu durchdringen. Aber auch wenn über Inseln überhaupt gesprochen wird, Und damit auch über das große Kuba, bleiben die Perspektiven der Figuren und des Erzählers düster. Man scheint sich relativ einig in dieser hier von der „Gräfin“ entfalteten, mehrfach aufgegriffenen Haltung zum Inseldasein:
“Die Stimme der Gräfin klingt nun noch ernster, Es ist natürlich, chérie, daß dich die Bettler auf den Flößen zum Weinen gebracht haben, der Inselmensch kommt sich immer wie auf einem Floß vor, glaubt immer, in jedem Augenblick in See zu stechen, aber auch, in jedem Augenblick unterzugehen, nur daß sein Floß nicht über das Meer segelt, doch wenn der Inselmensch entdeckt, daß die Insel sich nicht bewegen wird, wenn der Inselmensch merkt, daß sein Floß von einer ewigen, diabolischen Kraft am Meeresgrund festgehalten wird, dann fällt er Bäume und baut sich das Floß, das ihn für immer fortbringen soll. Sie stößt ein Lachen aus. Und was geschieht? das, womit er nicht gerechnet hatte, die Insel verläßt ihn nicht, er verläßt sie, aber sie verläßt nicht ihn, das ist gerade das Schlimme (noch mehr Gelächter), du verläßt die Insel, und die Insel verläßt dich nicht, denn der Inselbewohner weiß nicht, daß eine Insel eben nicht bloß ein allseits von Wasser umgebenes Landstück ist, eine Insel, liebe Marta, lieber Sebastián, das wollen wir ein für allemal festhalten: eine Insel (nun gut, ich will genau sein), diese Insel, auf der wir leben, ist eine Krankheit. Sie hebt den ausgebreiteten Fächer im Sand auf, schließt ihn, schaut sich nach allen Seiten um, und ihr Gesicht ist so spöttisch, daß Sebastián es mit der Angst bekommt.”
Die Insel also: Ein großer düsterer Traum, in den viele kleine Träume eingeschlossen sind, der in einem noch größeren düsteren Traum eingeschlossen ist.
Nicht ganz unkompliziert ist auch die Frage nach dem Erzähler. Der hält sich meist zurück, wenn das Geschehen auf der Insel in den vielen an kurze Erzählungen gemahnenden Episoden ausgebreitet wird. Hier denkt man an eine Art personalen Erzähler. Zwischenzeitlich aber bekommt dieser auktoriale Anwandlungen, spricht die Lesenden an und verspricht Vor- und Rückgriffe, Enthüllungen, die noch folgen werden, oder reflektiert auf die Form des Romans überhaupt. Allerdings sagt diese Erzählerfigur dann und wann auch gern einmal „ich“, und deutet an, dass sie selbst ein Bewohner der Insel sei. An manchen Stellen treten Ich-Erzähler auf, deren Namen wir erschließen können oder die uns durch Anrede klar werden, so erzählt im ersten Kapitel manchmal die Figur Merengue, später die Gräfin, oder auch die beiden Schwestern Martha und Mercedes. Allerdings denke ich nicht, dass man darauf insgesamt in erster Linie auf wechselnde Erzähler schließen kann, vielmehr handelt es sich um einen Wechsel der Perspektive innerhalb der großen Erzählung, die der sich im Epilog endgültig als Autor eines Romans zu erkennen gebende, sich auktorial gebärdende Ich-Erzähler dominiert.
Ein übergeordneter Handlungsbogen ist nur sehr spärlich anwesend. In dem Verwundeten, der im ersten Teil die Insel heimsucht, im zweiten gepflegt wird und im Dritten, fast erwartungsgemäß, mit dem jungen Literaturfreund Sebastién enggeführt wird. Jener führt dann im Schlussteil einige jüngere Figuren an, die ein Floß bauen wollen, um der Insel zu entgehen, deren Untergang sie vorraussehen, ehe ein selbstverschuldetes Feuer diesen Untergang tatsächlich bringt.
Große Schwierigkeiten hatte ich übrigens über weiteste Strecken, die Zeit zuzuordnen, in der der Roman spielen könnte. Das erdrückende Kuba, ist es das nachrevolutionäre? Das vorrevolutionäre? Einmal wird ein Politiker der Republik genannt, was auf zweiteres hindeuten könnte. Auch ist der Sozialismus, seine Versprechungen, sein Scheitern, eigentlich nie Thema. Zumindest eine Figur lebt auf der Insel, die die US-Besatzung als Erwachsener Miterlebt hat. Einige Filme, die die Figuren im Kino gesehen haben, etwa solche von Laurel & Hardy, lassen die Handlung auch am ehesten in der Zeit der Machado- & Batista-Diktaturen verorten.
Erst zum Schluss wird es konkreter, das Feuer wird mit der kubanischen Revolution enggeführt, und sowohl als Vernichtung verdammt, wie als Reinigung und Neuanfang gefeeiert. Doch schwingt bereits die Enttäuschung des später Erzählenden mit, dass die Welt für die meisten Menschen nicht besser wurde.
Möglich daher auch, dass der Roman in der Essenz ein anderer, auf das Alltägliche und Persönliche reduzierter Versuch, über die Zirkelhaftigkeit lateinamerikanischer Gesellschaften ist, wie etwa „Der General in seinem Labyrinth“, „Der Herbst des Patriarchen“ oder „Ich, der Allmächtige“, nach denen es am Ende gar keinen großen Unterschied mehr mache, welches autoritäre Gesellschaftssystem gerade herrsche.
„Dein ist das Reich“ ist definitiv kein Roman, den man bei einmaliger Lektüre durchdringt. Man vergisst Namen von Figuren, verliert einige der unzähligen Handlungsstränge aus den Augen, man wird den Text auf jeden Fall mehrfach durchackern müssen. Das Problem vieler solcher Texte: Sie geben uns keine Gründe, das wirklich zu tun. Das gilt nicht für „Dein ist das Reich“. Anders als viele solche moderne Texte, besonders in der deutschsprachigen Literatur, weiß Autor Estévez, dass man Lesenden etwas geben muss, wenn man etwas von ihnen erwartet. Die lang ausschwingenden melodischen Sätze, die Szenerie in ihrer Morbidität, in ihrer Tendenz zum Verfall in Ketten wunderschöner Bilder, die gesamte Konstruktion: Das ist so faszinierend schön, dass man es mit großem Genuss mehrfach liest, auch wenn es zugleich verwirrt und verstört.
Bild: wiki, gemeinfrei