Einfache Erzählung mit ein paar Schwächen. „Wunderkind Erjan“ von Hamid Ismailov.

Junge lebt in der kasachischen Steppe in der Nähe des sowjetischen Atomtestgeländes. Junge stellt fest, dass er ein Talent für die Geige hat. Junge verliebt sich. Junge springt in einen atomar verseuchten See. Junge hört auf zu wachsen, seine Jugendliebe wächst weiter. Das ist, wie auch schon im Klappentext in etwa zusammengefasst, die Geschichte des kurzen Romans „Wunderkind Erjan“ von Hamid Ismailov (100 Seiten). Und wem es reicht, dass in diesem Text genau das erzählt wird und nicht viel mehr, findet vielleicht Gefallen andieser einfachen Erzählung. Die ist auch sprachlich sehr einfach gehalten, nur selten blitzt einmal ein Moment der Schönheit auf, sei es als Angenehmes oder als Schreckliches:

„Der Herbst war lang und sonnig. Nichts hinderte Erjan daran, seine Touren immer mehr auszudehnen; von der toten Stadt, die er einst mit Shaken-Köke erblickt, immer weiter den trockenen roten Flusslauf hinab. Er entdeckte gigantische Krater in der aufgewühlten Steppe – hier hätten auch Mond und Mars ihr Spiegelbild finden können, um sich von einem Fluch zu befreien. Er stieß auf Überreste von Gebäuden, die aus der geschmolzenen Erde ragten wie Kultstätten unbekannter Kulturen. Einmal sah er eine schräg aus der Erde ragende Betonmauer, in die eine verkohlte Steppenulme mit schwarzen Vögeln auf den Ästen wie eingeprägt schien. Ob es sich um eine Zeichnung handelte oder den in der Mauer verewigten Abdruck eines lebendigen Baumes mit lebendigen Vögeln, konnte Erjan nicht erkennen. Von Mal zu Mal tiefer ritt er in die Höllenlandschaft hinein.“

Mir reicht es nicht. Soll ein Text überzeugen, muss er etwas Besonderes haben, was ihn über all die anderen Texte seines Formats hinaus hebt. Sprachliche Dichte, eine besondere Konstruktion oder wenigstens eine Geschichte, die mich das Buch in einem Rutsch von Anfang bis Ende lesen lässt. Das Besondere in diesem Fall ist am ehesten sprachlich. Ich habe glaube ich noch keinen Text erlebt, der sich so vieler nicht übersetzter Ausdrücke zwecks Herstellung eines Eindrucks von local color bedient. Diese kasachischen Ausdrücke dürften auch im Original Kasachisch sein, denn der Text ist ansonsten auf Russisch verfasst. Ich weise, in Rezensionen oder auch wenn ich Kurse gebe, gern auf die Möglichkeit hin, mit solchen Textfragmenten eine lokale Verortung zu stärken und den Lesenden zuzumuten, entweder mal ein paar Worte nicht zu verstehen (man sollte aber klug auswählen, damit der Text nicht selbst unverständlich wird), oder mal etwas nachschlagen zu müssen. Aber hier ist es mir einfach zu viel. Es gibt Seiten, da ist gefühlt jedes dritte Wort Kasachisch, und der Verlag hat sich zur Erklärung der Worte auf jene Ausgeburt des Teufels eingelassen, die man „Endnote“ nennt. Die Endnote ist die größte Geißel des akademischen Betriebs, in einem literarischen Text hat sie erst recht nichts zu suchen. Setzt doch Fußnoten! Wer will denn ständig, und in diesem Fall eben tatsächlich teilweise 10 bis 20 Mal pro Seite, an den Schluss eines Buches blättern, um einen Text halbwegs nachvollziehen zu können? Und in eBook-Ausgaben ist das noch einmal umständlicher.

Zurück zum Roman an sich. Der hat als zweite Besonderheit noch Zitate aus zahlreichen Liedern und Märchen für sich, wobei die Geschichte der Hauptfigur besonders mit einem Märchen enggeführt wird, das so geht:

“Doch nicht lange durfte der wackere Geser sein Glück und seine Ruhe genießen, denn vom Norden her drang der furchtbare menschenfressende Dämon Lubsan in sein Reich vor. Zwar geschah es, dass sich des Menschenfressers Weib Tümen Djirǵalañ in Geser verliebte und ihm daher ein Geheimnis ihres Mannes preisgab, welches Geser benutzte, um Lubsan totzuschlagen, doch darauf verabreichte Tümen Djirǵalañ ihm einen Vergessenstrunk, um ihn an sich zu binden. Geser trank den Becher leer, vergaß seine geliebte Urmay-sulu und blieb bei Tümen Djirǵalañ wohnen. Unterdessen brachen im Steppenreich Revolten aus, und Kara-Chotoñ nahm sich Urmay-sulu gewaltsam zur Frau. Täñgir aber ließ Geser nicht im Stich, er führte ihn ans Tote Meer und befreite ihn von dem Zauber, indem er ihm das Spiegelbild seines Zauberpferdes im Wasser zeigte. Auf diesem Pferd kehrte Geser in sein Steppenreich zurück, schlug Kara-Chotoñ und befreite seine Urmay-sulu.”

Doch auch das überzeugt nicht so wirklich. Gerade angesichts der Engführung mit dem Märchen hätte ich mir etwa gewünscht, dass es irgendeinem G r u n d für das in den See Steigen des Protagonisten gibt, was dann seine entscheidende Wachstumsverzögerung auslöst. Aber nein, er hatte einfach Lust darauf:

“Die Kinder blieben allein . Und in diesem Moment geschah es, dass Erjan von der Fülle des Lebens mitgerissen wurde: die endlos weite Steppe, der grenzenlose Himmel, das bodenlose Wasser und die stille Aysulu neben ihm, dazu sein eigener Schatten, beinahe so lang wie der von Dean Reed. Dieses Gefühl der Unermesslichkeit nahm von ihm bis in die letzte Faser seines Körpers hinein Besitz, er musste etwas tun – riss sich Trikot und Hose vom Leib und sprang vor aller Augen in den verbotenen See , planschte ein bisschen darin herum und kam wieder heraus. Alle staunten ihn an, halb bestürzt, halb anerkennend, am allermeisten Aysulu – sahen, wie er sich schüttelte und , als wäre nichts geschehen, in seine Segeltuchhosen und das chinesische Fußballtrikot fuhr.”

„Wunderkind Erjan“ ist eine nette einfache Erzählung vor dem Hintergrund der sowjetischen Atomtest-Programme, ohne große Spannungsmomente. Nichts was man abbrechen möchte, wenn man angefangen hat, dazu ist es auch wirklich zu kurz. Aber auch nichts, wovon ich jetzt zwingend nahelegen muss, es sich zu besorgen und zu lesen.

Bild: Pixabay.

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