Die falsche Rezeption von Zolas Vererbungs-Theorien. „Doktor Pascal“. Émile-Zola-Reihe 20.

Mit „Doktor Pascal“ beschließt Émile Zola den Rougon Marcquart Zyklus. Der wieder vergleichsweise kurze Text kann am besten, wie bereits in meiner vorherigen Rezension zu „Der Zusammenbruch“ angedeutet, als Epilog zur gesamten Reihe betrachtet werden. Denn er versucht leidlich, aber oft ein wenig zwanghaft, die unzähligen offenen Enden zu verknüpfen, die eine Reihe vor allem für sich geschlossener Romane ja notwendig lassen muss. Ich komme darauf zurück.

Der Arzt Pascal Rougon, bekannt als Nebenfigur aus „Der Totschläger“ und „Das Werk“, lebt, schon 60 jährig, mittlerweile wieder im fiktiven ländlichen Plassans. Er lebt von den Zinsen seines kleinen Kapitals, behandelt die Armen kostenlos und versucht ein Mittel zu entwickeln, das sowohl Tuberkulose als auch Nervenkrankheiten heilen soll. Außerdem beschäftigt er sich sehr intensiv mit dem Stammbaum der Familien Rougon und Marcquart, aus dem er glaubt, seine Thesen zur Vererbung von Charaktereigenschaften beweisen zu können. Bei ihm lebt seine Nichte Clothilde. Auch Pascals Mutter lebt noch in der Stadt und selbst die alte unglückliche Dide, bekannt seit „Das Glück der Familie Rougon“ hat in Plassans noch ihre Heimat. Sie wirkt wie ein lebendes Skelett und der Wahnsinn hat ihr Hirn zerfressen.

Atmosphärische Stärken

Der Konflikt des Romans ist einfach. Die Familie glaubt, der Arzt werde selbst über seine Forschungsarbeiten wahnsinnig und habe sich zu weit von Gott abgewandt. Aus religiösen Gründen bekämpft ihn erst die Ziehtochter Clothilde und versucht seine Aufzeichnungen zu zerstören. Doch er überzeugt sie vom Wert der Wissenschaft. Nun versucht die Mutter Félicité ähnliches zu erreichen. Und … ähhhm … ja…: Pascal geht derweil ein sehr intensives Verhältnis mit Clothilde ein und möchte sie heiraten. Die junge Frau, die uns eben noch als seine Nichte und de facto beinahe als eine Art Tochter vorgestellt wurde. Das ist schon sehr verstörend und riecht nach Altherren-Literatur. Der Roman ist bis dahin mit Ausnahme einiger exzessiver Theoriepassagen rund um das Thema Vererbung durchaus gut verfasst und besonders die Art und Weise wie die enge schlecht beleuchtete Studierstube des Doktor Pascal mit den Gärten, Feldern und Wäldern von Plassans kontrastiert wird, ist auch bildlich stark gestaltet:

“Mit leichtem Schritt ging er in sein Zimmer, wo er eine Art Laboratorium eingerichtet hatte, und in das er sich einschloß. Es war streng verboten, einzutreten. Dort befaßte er sich mit besonderen Präparaten, von denen er zu niemand sprach. Fast allsogleich hörte man das regelmäßige, langsame Stampfen eines Mörserstößels (…)

Ach, diese abscheulichen Aktenstöße! Sie sah sie nachts in ihren bösen Träumen, wie sie in feurigen Lettern die wahre Geschichte, die physiologischen Mängel der Familie, diese ganze Kehrseite ihres Ruhmes, preisgaben, die sie am liebsten für immer mit den schon verstorbenen Vorfahren begraben hätte. Sie wußte, wie der Doktor auf den Gedanken gekommen war, schon zu Beginn seiner großen Arbeiten über die Vererbung diese Urkunden zu sammeln, wie er sich veranlaßt gesehen, seine eigene Familie als Beispiel zu nehmen, betroffen von den vielen typischen Fällen, die er da wahrnahm und die den von ihm entdeckten Gesetzen als Bekräftigung dienten (…)

Sie aber war in einem Drang nach Luft und freier Gegend an dieses offene Fenster getreten. Der sengende Glutregen hatte aufgehört; nur ein letzter Schauer fiel vom heißen, erblassenden Himmel hernieder, und von der noch brennenden Erde stiegen mit dem erleichterten Atem des Abends warme Dünste auf. Unten an der Terrasse lag zunächst das Geleise der Eisenbahn mit dem Beginn des Bahnhofs, dessen Baulichkeiten man in der Ferne erblickte. Dann kam, die breite, verdorrte Ebene durchschneidend, eine Baumreihe, welche den Lauf der Viorne bezeichnete, jenseits deren die Hügel von Sainte-Marthe emporragten, ein rötliches, mit Oliven bewachsenes Gelände, das stufenweise von steinernen, ohne Mörtel aufgeführten Mauern gestützt und von düsterem Kiefergehölz gekrönt war, ein weites, trostloses und von der beständigen Sonnenglut wie ausgebranntes Amphitheater von der Farbe alter gebrannter Ziegel, das oben am Himmel jene Franse von schwarzem Grün begrenzte. Links that sich die Schlucht der Seille auf, Trümmer von mächtigem gelbem Gestein, das mitten in das blutfarbene Gelände herabgestürzt war, von einer ungeheuren, der Mauer einer Riesenfestung ähnlichen Felsenmasse überragt; zur Rechten, am Eingange in das Thal, wo die Viorne floß, schichteten sich die entfärbten roten Ziegeldächer von Plassans übereinander, der zusammengedrängte wirre Bau einer alten Stadt, aus welcher die Wipfel alter Ulmen hervorlugten und welche der hohe Turm der Saint-Saturninkirche in dem durchsichtigen Gold des Sonnenuntergangs einsam und in heiterer Erhabenheit überragte.”

Erzählerische Schwächen

Erzählerisch weist der Roman jedoch von Anfang an Schwächen auf. Die Art und Weise wie Clothilde sich vor der wissenschaftsbegeisterten Ziehtochter zur religiösen Fanatikerin entwickelt ist absolut unglaubwürdig. Es geschieht über Nacht, nach einer Predigt, wie nach einem Fingerschnippen. Und genauso schnell ändert sie ihre Meinung wieder. Und wird von der Ziehtochter zur Geliebten. Selbst, wenn das nicht verstörend wäre, es wäre nicht gut ausgeführt. Und oh, wie kitschig und wie schrecklich unterwürfig ist diese „Liebe“ gestaltet:

„Sie ergriff seine Hände wieder; sie zwang ihn, sie anzusehen. »Und deswegen, weil ich Deine Feindin bin, schickst Du mich fort? Ich bin nicht Deine Feindin, ich bin Deine Sklavin, Dein Eigentum, Dein Werk … Hörst Du? Ich bin mit Dir, ich bin für Dich, für Dich allein!« Er strahlte, ein Abglanz unendlicher Freude zeigte sich in seinen Augen. »Ja, ich werde diese Spitzen anlegen! Sie sollen mir in meiner Hochzeitsnacht dienen, denn ich will schön sein, sehr schön sein für Dich … Aber Du hast mich noch immer nicht verstanden! Du bist mein Meister, Du bist es, den ich liebe …«“

Und das von einem Autor, der durchaus viele für ihre Zeit glaubwürdige und dennoch eigenständige weibliche Charaktere geschaffen hat.

Die Vererbungslehre

Am interessantesten aber ist die Vererbungslehre des Doktor Pascal, die bekanntlich auch das sein soll, was Zola mit seinem Romanzyklus zeigen möchte. Die meisten modernen Besprechungen sagen: Viele der Romane sind gut, aber das Ziel wurde verfehlt bzw. die Lehre ist einfach Unsinn. Zum Glück möchte ich hinzufügen, denn Romane sind eigentlich immer Mist wenn sie allzu deutlich ein bestimmtes Ziel verfolgen. Der Rougon Marcquart Zyklus ist in der Breite dankenswerter Weise alles andere als didaktisch. Dennoch glaube ich einhaken zu müssen. Ich habe, gemäß der Art und Weise, wie normalerweise darüber geschrieben wird, Zolas Vererbungs-Komplex im ersten Text dieser Reihe folgendermaßen dargestellt:

“Er hing dabei einer relativ strikten Vererbungslehre innerhalb der menschlichen Gesellschaft an, die er mit Momenten der Milieutheorie verknüpfte. Das Zusammenspiel von Milieu und Vererbung zu zeigen ist sozusagen der erklärte sozialwissenschaftliche Ziel des Rougon-Macquart-Zyklus.”

Und ich glaube, das ist ein Missverständnis, weil wir unser biologisches Verständnis von Vererbung auf einen Autor projizieren, der relativ wenig Ahnung von Biologie hatte, in einer Zeit, in der die biologische Vererbungslehre sowieso noch in den Kinderschuhen steckte. Wenn Zola das Milieu umschreibt, das das Individuum formt, meint er in etwa das, was wir auch meinen: die Umstände des Wohnortes, der Schicht und so weiter und so fort. Wenn er von Vererbung innerhalb der Familie spricht, meint er ein bisschen von dem, was wir unter biologischer Vererbung verstehen. Und gleichzeitig relativ viel von dem, was wir noch immer unter „Milieu“ subsumieren würden oder unter dem Begriff der Erziehung, der guten und schlechten Traditionen einer Familie, dem was bewusst und unbewusst auf Kinder übertragen wird. Auch wenn manchmal vom Blut die Rede ist, ist das Blut meist eher metaphorisch gemeint. Ich belege das mal an einer drastischen Passage, die ansonsten nur so gelesen werden könnte, dass die Rougon und Marcquart Zoophilie praktizieren:

“»Und die Tierwelt, das Tier, welches leidet und liebt, das wie ein schwacher Abklatsch des Menschen ist, jene ganze brüderliche Tierwelt, die von unserem Leben lebt! Ja, ich hätte gewünscht, ich hätte die Tierwelt in die Arche setzen können, ich hätte ihr ihren Platz unter unserer Familie anweisen können und hätte sie zeigen können in ununterbrochener Verbindung mit uns, unser Dasein vervollständigend. Ich habe Katzen gekannt, deren Anwesenheit den geheimnisvollen Zauber des Hauses bildete, Hunde, die man anbetete, deren Tod beweint wurde und im Herzen eine unstillbare Trauer zurückließ. Ich habe Ziegen, Kühe, Esel gekannt von einer außerordentlichen Wichtigkeit, die eine solche Rolle gespielt haben, daß man ihre Geschichte schreiben sollte … Und denke nur daran, was uns unser Bonhomme ist, unser armes altes Pferd, das uns während eines Vierteljahrhunderts gedient hat! Glaubst Du nicht, daß sich seinem Blute von dem unseligen etwas mitgeteilt hat und daß er für die Zukunft zur Familie gehört?

Man sieht allerdings im Kontext gleich: Es geht um Beeinflussung, nicht strikt um Vererbung. Doch so etwas subsumiert Pascal, und ich schließe der Einfachheit halber kurz, Zola, unter Vererbung, unter familiäre Vererbung, nicht unter Milieu. Dafür, dass was Zola Vererbung nennt, zu 90 Prozent nichts Biologisches meint, spricht auch die Tatsache, dass immer wieder Figuren, die in früher Jugend aus ihren Familien herausgenommen wurden oder sogar später noch in ein anderes Milieu gewechselt haben oder aus einer Idee Kraft ziehen konnten, zu guten Menschen geworden sind. Die drei Brüder, Etienne, Jean und Claude, von deren Lebenswegen Pascal zwei negativ beurteilt, die aber doch alle drei große Erfolge hatten, meist gut und ehrlich gehandelt haben und für ihre Ideale gekämpft, sind gleich drei bedeutende Beispiele.
Und zuletzt ist natürlich auch Pascal kein makelloses Sprachrohr der Theorien seines Autors. Die Figur hat im besten Falle etwas faustisches. Aber: Ein von Anfang an zusammengestauchter Faust. Ein Mann der Dunkelheit, während die einfacheren Menschen im Licht leben, das er ihnen doch mit seiner Wissenschaft bringen möchte. Sein Unterfangen, Tuberkulose mit einem Serum aus Kalbshirn zu heilen, das er seinen Patienten spritzt, hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts etwas sehr archaisches. Die Idee kommt auch aus einem mittelalterlichen Buch. Aus seiner Vererbungslehre klammert er sich selbst geschickterweise aus, er sei ja gar kein richtiger Rougon. Es gibt wirklich zahlreiche Momente, die Pascal in einem fragwürdigen Licht zeichnen. Nachdem er die Liebe entdeckt hat, wird er gar fröhlicher Eugeniker. Er will jetzt Krankheit nicht mehr heilen, sondern nur Schmerzen lindern. Denn das austricksen des natürlichen Wegs der Evolution schwäche die Gesellschaft, und dann bleibe sie immer so schrecklich, wie sie derzeit sei.
Damit sage ich nicht, dass Zola diese Ideen zur Vererbung selbst nicht glaubt. Sondern dass er ein ausreichend kluger Schriftsteller war, um zu wissen, wie langweilig eine Figur ist, die einfach nur als Sprachrohr des Autors fungiert. Man wünschte manchem Zeitgenossen, davon zu lernen.

Muss man das lesen?

„Doktor Pascal“ ist trotzdem kein wirklich starker Roman und baut im Verlauf auch noch sehr ab. Wenn man die Reihe weniger als die chronologische Geschichte einer Familie, und eher als gesellschaftlichen Querschnitt liest, dann ist dies ein Text, auf den man getrost verzichten kann. Ja, er klärt die Schicksale zahlreicher früherer Protagonisten auf, doch nur kursorisch, in einzelnen Sätzen Pascals. Das wäre, wenn man es für nötig hält, besser an anderer Stelle geschehen. Warum etwa treffen wir Etienne nicht auf den Barrikaden der Kommune, sondern erfahren hier, dass er dort war? Der Roman enthält allerdings einige wenn auch nicht literarisch gelungene, so doch hilfreiche Zusammenfassungen von Handlungs- und Ideenkomplexen des Zyklus.

Ganz am Ende ist meine Serie damit noch nicht. Nächste Woche blicke ich noch einmal auf den gesamten Zyklus.

Bild: Stammbaum von der Hand Zolas, Wiki, gemeinfrei

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