Eindruck beim Lesen der ersten Seiten von “Die Nibelungen – Ein deutscher Stummfilm” von Felicitas Hoppe: Ok, die Hauptfigur scheint ein personifizierter Schatz zu sein, die “Goldene Dreizehn”. Das wird entweder großartig oder totaler Mist.
Eindruck nach 30 Seiten: Hmm. Bisher ist das eigentlich einfach eine Nacherzählung einer (wahrscheinlich) Hebbel-Inszenierung auf den Wormser Nibelungenfestspielen aus der Perspektive einer Zuschauerin oder eines Zuschauers, die dann und wann süffisante Kommentare zu Gepflogenheiten modern Regietheaters, zu politischen oder auch psychologischen Implikationen des Stücks abgibt. Aber schauen wir mal, wenn diese Figur dann in Beziehung zu anderen tritt könnte eine interessante Entwicklung angestoßen werden.
Nach 60 Seiten: Nein, anscheinend geht das immer so weiter. Das Stück wird geschaut und kommentiert. (Später stellt sich heraus – nicht von einer Zuschauerin, von einer Nebenrolle).
Warum all das?
Nun, man kann diesem Buchpreis-Kandidaten definitiv nicht vorwerfen, ein allzu gewöhnlicher Roman zu sein. Aber “Das erste gesamteuropäische Heldenepos der Gegenwart”, wie es der Klappentext will? Das scheint mir dann doch etwas sehr dick aufgetragen.
„Die Nibelungen“ ist tatsächlich in erster Linie eine Nacherzählung des Epos als Theaterinszenierung. Es wird also einerseits die nun wirklich schon oft erzählte Geschichte in ihrer bekannten Form erzählt und kommentiert, wobei Leerstellen gefüllt werden und auch dieses Füllen wiederum kommentiert. Andererseits verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Nicht-Theater ein wenig. Mal werden die Figuren eher in ihren Rollen betrachtet, dann als Schauspieler, dann auch wie die Rollen das Verhältnis zueinander bestimmen können, selbst bevor sie auf der Bühne aufeinanderprallen (so soll Hagen angeblich schon von seinem ersten Auftritt an den anderen Respekt und sogar Furcht einflößend). Zusätzlich zum kommentierten Theaterstück gibt es zwei Pausen, in die fiktive Interviews mit den Schauspielern geschaltet sind, die größtenteils noch einmal darin bestehen, dass diese ihre Interpretation des Stoffes im Spannungsfeld zwischen ultratraditionell, politisch und/oder auf zeitgenössische Ereignisse bezogen präsentieren.
Bei alldem stellt sich allerdings weiter die Frage nach dem wozu. Die Geschichte, die Felicitas Hoppe erzählt, ist bereits unglaublich bekannt. Die Ebene der Beobachtungen fügt dem nicht wirklich eine zweite Geschichte zu, zu der die erste in Spannung gesetzt werden könnte. Der Beobachter wird niemals Figur, bleibt kommentierender Beobachter. Hoppes Nibelungen sind die kommentierten Nibelungen. Und solche Textkommentare haben es an sich, dass sie ein Werk literarisch normalerweise nicht unbedingt besser machen. Denn was in diesem komplexen, teils durchaus widersprüchlichen Epos alles angedeutet ist, teils, weil es so gewollt sein mag, teils auch weil durch ganz unterschiedliche Geschichten hier gewissermaßen eine Art geronnenes historisches Bewusstsein vorliegt, wird nun eben aus-gedeutet. Aus Anspielungen, Handlungen, Konflikt wird Erklärung. Und so interessant es sein mag ein Buch wie zB „Thinking in Circles: An Essay on Ring Composition“ geistig auf Star Wars anzuwenden, man möchte sich doch kaum jedesmal, wenn man Star Wars schaut, eine kommentierte Version reinziehen, die mit dem Text dieses Buchs unterlegt ist, oder? Ungefähr das macht Hoppe hier für die Nibelungen.
Dabei ist „Die Nibelungen“ übrigens keiner dieser Richtigstellungs-Romane, die eine Zeitlang in Mode waren. In denen also eine Figur der Zeitgeschichte oder aus einem älteren literarischen Werk erklärt, es sei alles ganz anders gewesen und (meistens) diese Figur sei von der Geschichte bis jetzt viel zu nachteilig beurteilt worden. Hoppes Nibelungen haben nicht wirklich eine Tendenz. Mal wird das moderne Regietheater angegriffen, mal der Inszenierung mangelndes Klassenbewusstsein vorgeworfen, mal genau diese politische Perspektive verworfen (in den Interviews). Und so weiter und so fort. Viele Kommentare derweil sind tatsächlich einfach Stoff-Interpretationen oder Erklärungen, die man auch aus der Fachliteratur kennt, etwa zum schlechten Zusammenpassen der ersten und der zweiten Hälfte des Nibelungenliedes.
Wie gesagt: es ist definitiv ein ungewöhnliches Buch, aber das dürfte es für die meisten LeserInnen dann auch gewesen sein. In der ersten Hälfte wird man sich noch nicht langweilen, weil man bei den Theaterkommentaren hier und da womöglich zustimmen wird und ein bisschen Spaß am Dissen hat. Menschen fühlen sich ja meist recht gut dabei, gemeinsam über einen Dritten herzuziehen. Aber mit der Zeit verliert auch das seinen Reiz und da auch der Stil recht sperrig ist (und damit wohl an das Epische anklingen soll – nunja, die Verform sollte ja eigentlich einst eher den Text eingängiger machen) – wird das Buch über die nur knapp etwas mehr als 200 Seiten doch sehr anstrengend.
Wer kommentierte Nibelungen sucht, dem empfehle ich das von Peter Wapnewski vorgetragene Hörbuch, das die Simrock-Übersetzung mit dem mittelhochdeutschen Original mischt.
Bild: Wiki, gemeinfrei
Gutes Gefühl, wenn zwei Rezensenten ähnliche Sichtweisen haben!
https://literaturzeitschrift.de/book-review/die-nibelungen-ein-deutscher-stummfilm/
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Ich denke für die Shortlist dürfte es sicher reichen, passendes Thema & tatsächlich angesichts dieser Longlist fast verdient. Für den Preis… glaube ich eher nicht. Wobei ich mir sonst nur noch Bazyar vorstellen könnte, für die am stärksten getrommelt wird. Literarisch hätten es „Himmel“ oder „Vater und Ich“, verdient, aber das erste ist zu unaufgeregt & der Buchpreis an den Verbrecher-Verlag… das glaube ich erst, wenn ich es sehe.
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Was ich bisher von den 20 Büchern gelesen habe, überzeugt mich nicht – aber wann hätte diese seltsame Buchpreis-Rally je fasziniert? Die von Dir genannten Titel habe ich noch vor mir. Danke für den Hinweis!
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Es war seit ich mitlese immer unterwältigend, aber normalerweise eher wg diesem Literaturschulen-Einheitsstil, was für halbwegs ordentliche aber langweilig ähnliche Texte sorgt. Aber diesmal ist es bisher noch ne Nummer drunter. Selbst meine „Favoriten“ würd ich jetzt nicht enthusiastisch an Freunde empfehlen und ein Teil der Texte wirkt wie absichtlich verfasst, um das Lesen schwer zu machen. Ohne „Hook“, der einen trotzdem lesen lässt & ohne ernsthaften Ästhetischen Grund für diese Sprödigkeit.
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Wir finden diesen Text völlig unnötig. Auch wir sind angetan vom Wapneski-Hörbuch, wissen aber nicht, was Hoppes Buch soll. Es ist weder ein hilfreicher Kommentar, noch ein eigenständiger Text; es schon stilistisch ein Zwitterwesen.
Alles Gute
The Fab Four of Cley
:-) :-) :-) :-)
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Ja. Ich würdige durchaus den Versuch, an einen „Roman“ in recht ungewöhnlicher Weise heranzugehen, aber es fehlt letztlich einfach das verbindende Element. Und wäre es nur gewesen, dass der Beobachter durch das Stück irgendwie eine persönliche Geschichte aufarbeitet. Auch stilistisch ist da wenig Konsistenz. Gibt sogar alliterative Passagen, aber ohne System, einfach mal so.
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