Ein wirklich starker Roman. „Saint X“ (Alexis Schaitkin) eröffnet auf der fiktiven Karibik-Insel des gleichen Namens und zeichnet in kurzen Fragmenten einen unglaublich atmosphärischen Familienurlaub irgendwo zwischen lasziver Entspannung und leichter untergründiger Bedrohlichkeit. Diese Bedrohlichkeit gewinnt die Oberhand, als die gerade volljährige Tochter Alison Tod in der Lagune einer Nachbarinsel gefunden wird. Zum Schluss dieses ersten Teils des Romans kippt in einem interessanten Kniff die Erzählperspektive, und was bisher wie eine indirekt freie oder gar auktoriale Erzählung wirkte enthüllt, sich als die Ich-Perspektive eines Polizisten auf Saint X.
Damit ist abgesteckt, was folgen wird. Der Roman wird immer wieder mit seinen Perspektiven spielen und den Leser sich selten ganz klar auf eine definitive Version von Ereignissen festlegen lassen. Wir folgen der Familie zurück nach New York und bald nach Pasadena, wohin man zieht, um zumindest, soweit es geht, der Erinnerung an den Tod der Tochter zu entfliehen. Als zentrale Figur kristallisiert sich immer mehr Alisons jüngere Schwester Claire heraus, die dann als 25-jährige unter dem selbstgewählten Alias „Emily“ wiederum in New York zufällig in einem Taxi einem der beiden Männer begegnet, mit denen Alison die Nächte vor ihrem Tod verbracht hat. Emily beginnt diesen Mann zu stalken und drängt sich langsam in sein Leben.
In dieser Handlung, die sich um verschiedene Wege dreht, einerseits mit dem Tod der Schwester zurande zu kommen, andererseits vielleicht doch noch aufzudecken, was wirklich passiert ist, sind mehrere andere Ich-Perspektiven geschaltet sowie einige weitere Erzählungen in der dritten Person, deren „Ursprung“ nicht immer ganz klar wird. Doch auch die Ich-Erzählungen sind teils, man könnte sagen, unterschiedlicher Ordnung. Wenn Alison erzählt etwa, wissen wir, dass es sich um die Audio-Tagebücher handelt, die sie geführt hat, und die Emily einige Zeit lang wie manisch hört. Aber auch Figuren aus Alisons Vergangenheit und von Saint X bekommen manchmal Monologe spendiert, die freier im Werk schweben. Die Verlässlichkeit der Audio-Tagebücher wird von Emily mit der Zeit sehr deutlich in Frage gestellt. Aber wie sollen wir uns zu den anderen Ich-Perspektiven stellen? Und was, wenn doch einmal in der dritten Person erzählt wird, wie in der zweiten Hälfte des Buches, wenn wir Saint X wieder besuchen und Alisons letzte Tage detaillierte nachvollzogen werden? Halten wir uns an die Konvention, an einen auktorialen Erzähler zu glauben, oder handelt es sich hier nicht eher um die unzuverlässigsten Passagen des Werkes, da es sich nach allem, was wir von vorher wissen, ja eigentlich nur wiederum um eine Rekonstruktion, wahrscheinlich um Emilys Version der Ereignisse, handeln kann?
Doch man lasse sich davon nicht abschrecken, dass „Saint X“, je länger man darüber nachdenkt, sich als unglaublich komplizierter Roman entpuppt. Der Text ist durchaus leicht zu lesen. Dicht erzählt, sprachlich auch wunderschön, atmosphärisch regelmäßig absolut auf den Punkt. Das Spiel mit der Perspektive, das man, wenn man unbedingt will, sicherlich als „postmodern“ bezeichnen kann, entwickelt sich ganz zwanglos und ist niemals Selbstzweck. Dieser Roman kreist um das Verhältnis zur Vergangenheit, die Lügen, die wir uns über uns selbst und andere erzählen, auch um das Verhältnis zu anderen Kulturen, besonders im Urlaub, um das, was man im universitären Jargon vielleicht „Othering“ nennen würde , um Sexualität und immer wieder nicht nur um die Frage: „Was ist mit Alison passiert?, sondern auch darum, wer Alison eigentlich war. Denn die dürfte, ihrem frühen Tod zum Trotz, nicht immer unbedingt die Sympathien der Leserschaft erwecken. Oder um es mit den Worten von Emily zu sagen:
“Finden Sie Alison ganz furchtbar? Ich muss gestehen, während ich mich in meine Schwester hineinversetze und ihr Leben nachvollziehe, verspüre ich manchmal den Drang, sie zu packen und zu schütteln. Ich finde ihre permanenten Urteile, die sie über unsere Eltern und die anderen Gäste des Resorts fällt, selbstgerecht und verzogen, vor allem das Urteil, das sie über den blonden Jungen spricht, der ja quasi ihre Zweitausgabe ist: klug, privilegiert, attraktiv, und geschmackvoll genug, um zu wissen, dass er sich selbstironisch zu diesen Dingen zu verhalten hat. Ebenso ärgerlich ist es, dass sie Edwin und Clive völlig von ihrem Urteil ausnimmt. Wie verzweifelt sie ihre Anerkennung sucht, ihre besondere Aufmerksamkeit, wie dringend sie möchte, dass die beiden wissen, wie viel besser sie ist als all diese –im Grunde ja relativ anständigen –Leute aus ihrer Welt. Eines will mir aber immer noch nicht in den Kopf: War Alison auf eine Art unerträglich, wie es jeder durchschnittliche Teenager sein kann, oder waren da dunklere Seiten im Spiel? War ihr Verhalten auf Saint X typisch oder beunruhigend? Was für ein Schicksal lag vor ihr, als sie mit dem blonden Jungen spielte und in Paulette’s Place tanzte und durch die vom Wetter aufgewühlten Wellen hinter die schwarzen Felsen schwamm? Wer war sie?”
Bild: Pixabay.
(ab hier kleiner Spoiler. Oder auch nicht.)
Wie gesagt. Ein starker Roman, unter meinen Lektüren sicherlich bisher eine der stärksten des Jahres. Nur „Alles Glänzt“ übertrifft „Saint X“ noch einmal ein Stück. Wer allerdings eine Krimigeschichte mit klaren Antworten erwartet, mag enttäuscht sein. Das manische Antworten finden und geben wollen wird vielmehr problematisiert, und was genau mit Alison geschehen ist und ob es überhaupt Fremdeinwirkung gab – das bleibt unklar.