„Ich bin Virginia Woolf“ von Pola Polanski ist ein nicht ganz einfach zu bewertendes Buch. Es wirkt auf den ersten Blick sehr einfach, und das erste Kapitel ist in einer Weise geschrieben, die mich nicht wirklich zum Weiterlesen animiert hat. Eine sehr grob gezeichnete Szene und Dialoge, die plakativ wirken, als stünde die Informationsvermittlung und nicht die Geschichte im Mittelpunkt. Ja, mit dem ersten Kapitel hatte ich die Befürchtung, es könnte sich um einen Roman handeln zu dem eine Schriftstellerin ein interessantes Thema gefunden hat und das dann einfach runter hackt, ohne zu sehen, dass ich das Ganze auch ästhetisch fügt.
Aber die Erzählweise ändert sich. Wir treffen im ersten Kapitel Protagonistin Inka in der Psychiatrie. Dann springt die Erzählung zurück in der Zeit und folgt der Entwicklung, wie es dazu kam, dass Inka, die glaubt Schriftstellerin zu sein, aber niemals schreibt, sich für eine Reinkarnation von Virginia Woolf hält. Der Text ist hier viel sauberer aufgebaut und mit mehr Geduld erzählt, und die wenigen Passagen, die Inka zu Papier bringt, zeigen, dass Autorin Polanski, wenn sie wollte, auch recht poetisch schreiben könnte. Also muss man davon ausgehen, dass die hastige Erzählweise des ersten Kapitels der formale Weg ist, den Polanski gewählt hat, um den von ihren Wahnvorstellungen bereits sehr fragmentierten psychischen Zustand der Protagonistin am Ende ihrer Entwicklung einzufangen.
Oder vielleicht: Nicht allein. Denn tatsächlich wirkt das Werk auch an anderen Stellen am schwächsten, wenn einmal längere Dialoge auftauchen. Die bleiben weiterhin, nun ja, Informationsvermittlung für die Leser weniger als lebendiges gesprochenes Wort.
Doch das tut der Tatsache keinen Abbruch, dass es sich bei „Ich bin Virginia Woolf“ um einen im Ganzen lesenswerten Roman handelt.
Die Protagonistin ist nicht, wie Protagonisten in ähnlicher Romane über verlorene Oberschicht-Männer und -Frauen. Sie ist sprunghaft, politisch unkorrekt, mancher Leser mag sie sogar unsympathisch finden. Doch sie springt einen glaubhaft an als eine, die irgendwo gefangen ist zwischen dem Untergang und dem vom Bruder geplanten Wiederaufstieg einer einst großen Familie, zwischen Upper-Class-Selbstgefälligkeit und der Schnelllebigkeit sozialer Medien, auf denen sie ihre Gedankenfetzen mit der Welt teilt. Das Abgleiten in einen Wahn, der irgendwie gar nicht so schlimm wirkt, zeitweise sogar befreiend, aber am Ende auch nicht wirklich hilfreich ist, kommt überzeugend rüber und gleichzeitig als etwas, dass beinahe jedem passieren könnte.
Gibt es derzeit eigentlich ein gigantisches Virginia Woolf Revival? Immerhin habe ich in deutscher Sprache jetzt schon das dritte Buch gelesen, das sich in den letzten zwei Jahren intensiv mit der Schriftstellerin beschäftigt hat. Oder ist das auf den deutschen Sprachraum beschränkt? „Ich bin Virginia Woolf“ ist in jedem Fall um Klassen besser als Michael Kumpfmüller literarische Woolf- Biografie „Ach Virginia“, und auch wenn „Während wir feiern“ von Ulrike Ulrich sicherlich der handwerklich rundere Versuch ist, Woolf in das 21. Jahrhundert zu bringen, so fehlte diesem routinierten Werk doch dieses gewisse Besondere, das dafür sorgt, dass man vielleicht auch in ein paar Jahren noch mal daran denkt. Einiger Schwächen zum Trotz hat „Ich bin Virginia Woolf“ dieses Besondere Es ist kurz und dicht. Man kann es an einem Tag auslesen und wird das wahrscheinlich auch wollen. Es hat eine interessante Hauptfigur, und Virginia Woolf ist nicht einfach nur eine gefeierte Schriftstellerin, aus deren Schatten der Text quasi epigonal heraus geschrieben ist, sondern beinahe so etwas wie ein erzählerisches Mittel.
Auch wenn das Buch für mich, einen absoluten Freund kurzer dichter Literatur, durchaus noch etwas mehr Schliff bei den Dialogen und etwas mehr Einbettung der Dialoge in den Handlungsrahmen vertragen hätte, also vielleicht 10 bis 20 Seiten mehr Text, ist es durchaus ein interessantes Werk. Und wer in den Stil der ersten paar Seiten ebenso wie ich nicht wirklich rein findet, darf durchaus noch ein paar Kapitel lesen, ehe eine Entscheidung getroffen wird.
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