Bei Wächter der Winde dürfte es sich um eines von Oliver Plaschkas bisher ambitioniertesten Romanprojekten handeln. Der Roman lehnt sich eng an die Handlung von Shakespeares Der Sturm (The Tempest) an. Nun mag der ein oder andere vielleicht denken „Ahh… ein Remake. Auf dem Trip ist Disney ja auch grad. Nee, das ist doch billig. Das schreibt man ja an zwei Wochenenden herunter.“
Doch im Gegenteil. Wer ernsthaft einen alten Stoff lesbar in die Gegenwart transponieren möchte, und des weiteren dem Stoff gerecht werden möchte, hat viel Arbeit vor sich. Kaum ein Moment, in dem man sich mal von einer spontanen Idee tragen lassen kann, kaum einer, in dem man losschreiben und später schauen kann, wie das Ganze zusammenpasst. Gewiss: Das Gerüst des Werkes steht, doch steht das für gewöhnlich sowieso halbwegs, ehe man mit dem Schreiben anfängt. Doch all den größeren und kleineren Umbauten, die sich im Schreibprozess normalerweise einstellen, sind enge Grenzen gesetzt. Zumindest, wenn man wie Plaschka hier nicht nur eine nette Hommage ans Original anstrebt, sondern tatsächlich zu jeder wichtigen Figur, jedem Handlungselement im Stück eine Parallele im Text anlegt. Und zugleich ist das Problem zu lösen, dass bei den meisten Lesern heutzutage Shakespeare-Kenntnisse nicht vorausgesetzt werden können. Der Roman muss auch ohne diese lesbar bleiben.
Dass Heyne Klett-Kotta (Hobbitpresse) diesen Text druckt ist durchaus eine Überraschung. Wächter der Winde hätte von der Anlage her ebenso wie von der stilistischen Gestaltung gut auch Teil der Hogarth Shakespeare-Kollektion sein können und ist definitiv gelungener, doch vielleicht auch schwieriger, als einige dieser High-Brow-Shakespeare-Homagen. Der Verlag könnte sich damit einen Zielgruppenkonflikt einhandeln. Der Roman folgt nirgends den Regeln klassischer Fantasy, und dürfte auch im Bereich urban/modern Fantasy wenig vergleichbares kennen, am ehesten noch (aber nicht wirklich) die frühen Werke Plaschkas. Und eben Shakespears Sturm. Wer aber Fairwater und Die Magier von Montparnasse mochte, dürfte auch diesen Roman mögen.
Darum geht es: Toni, Alexander, Sohn Bastian und einige weitere Figuren werden auf dem Heimweg von der Beerdigung von Bastians Schwester von einem Sturm erfasst und finden sich in einer fantastischen Landschaft voller Windräder und anderer atemberaubender Konstruktionen wieder. Da der Sturm sich wohl quer durch die Raumzeit zieht, landen als Beifang zwei Verbrecher aus den 30ern und ein Westläufer aus dem 19. Jhdt in dieser Welt. Herrscher des kleinen Landes unter den Wind ist Ross Perrault, einst von seiner Frau Toni und Alexander King aus der eigenen Ökostrom-Firma ausgebootet, dabei allerdings auf dem besten Weg, das Unternehmen selbst gegen die Wand zu fahren, und nun auf Rache sinnend. Es folgen daraus, relativ eng am Stück, fast alle bekannten Verwicklungen und Paarungen Shakespeares, wobei durch Rückblenden und Träume der Hintergrundgeschichte deutlich mehr Raum geboten wird.
Manchmal zu direkt…
Das macht einerseits die Stärke des Romans aus: Denn wer wollte einen zweiten Sturm lesen, der einfach nur die Dialoge aktualisiert? Dialoge, das konnte Shakespeare selbst. Andererseits stößt der Roman hier auch auf die ein oder andere Schwierigkeit. Der Sturm ist ein Meisterwerk der Andeutungen, der Vielschichtigkeit, der interpretatorischen Freiheit. Und je mehr man dort füllt, desto enger wird man die Räume ziehen, in denen der Meister seine Magie webte. Es gibt ein paar Stellen, da ist Wächter der Winde mir etwas zu sehr „on the Nose“, etwa wenn es heißt:
„Nein, korrigierte sich Bastian. Der Sturm war nicht da draußen über dem Meer. Der Sturm war das Fenster, war das Loch – er tobte mitten unter ihnen im Schankraum und nirgends sonst.“
Das war ja auch bei Shakespeare schon so: Dass die Insel, das „Fremde“, nicht die eigentliche Bedrohung ist, sondern dass Konflikte, Ängste, alles von zuhause mitgebracht wurden. Aber ist es nötig, dass nochmals betonen? Spricht nicht das ganze Stück, bzw. jetzt der ganze Roman (und im Großen und Ganzen sehr überzeugend) davon? Eine weitere Stelle:
„Sie alle hatten einen Kloß im Hals– denn alle hatten sie hier, an diesem unwahrscheinlichen Ort, etwas gefunden, das sie lange verloren geglaubt hatten.“
Es gibt noch ein paar Passagen, bei denen ich mich frage, ob nicht ein wenig die Sorge die Feder führte, das angepeilte Publikum könnte durch zu viel Subtilität überfordert werden.
Das Theatralische als große Stärke
Andere Stellen, an denen dick aufgetragen wird, sind dagegen zwar vielleicht im ersten Moment ungewohnt, werden im Nächsten aber als absolut richtig erkannt. Die Welt „unter dem Wind“, besonders die Träume der Protagonisten, die eine wichtige Rolle spielen, um die Geschichte des Kampfes zwischen King und Perrault sowie alle damit verbundenen Handlungen zu beleuchten, funktionieren nach der Logik des Theaters. Die Bösen sind richtig böse, die Guten besonders gut, Konflikte werden mit viel TamTam ausagiert, alles leuchtet, schillert, allem wohnt eine gewisse Grandezza inne. Die Zeit, die die Protagonisten „unter dem Wind“ verbringen ist sozusagen ein großes Spiel im Spiel, dessen scharfe Konfliktlinien erst in der noch theatralischen Auflösung und dem ausführlichen Epilog wieder weicher gezeichnet werden. Was an Konflikten mitgebracht wurde, ist in dieser Schärfe schließlich doch zu einem guten Teil Illusion.
Wächter der Winde braucht definitiv eine gehörige Portion „willfull suspension of disbelief“, und das Verhältnis von Magie, die letztendlich als höhere Technik erklärbar wird, und Magie, die einfach da ist, bleibt bis zum Schluss schwierig. Plaschka baut kein Magiesystem, wie man es aus der High-Fantasy kennt, aber anders als Shakespeares dichtes Stück verwendet er durchaus einige Zeit darauf, magische Elemente unter dem Wind als Entwicklungen des genialen Erfinders Ross zu erklären. Die Magie, die es aber brauchte, um diese Welt überhaupt zu erschaffen (Sycorax, Ariel) bleibt einfach vorausgesetzt als abgespaltenen Teilen der ganzen großen Welt. Das ist natürlich schwerer zu verdauen, wo prinzipiell ansonsten die Regeln rationale Erklärung in Kraft bleiben, als im Falle von Shakespeares Sturm, wo die Insel einfach da ist, und magisch, und das ist halt so, Punktum.
Wer sich darauf einlässt, findet in Wächter der Winde aber eine der besseren modernen Shakespeare-Bearbeitung, einfallsreich in der Ausgestaltung der Welt, bildreich in den Beschreibungen, überzeugend in seiner Beziehung zum Original. Es bleibt nur die Frage: Wer wird das lesen? Manchen Kompromiss zum Trotz ist Wächter der Winde nicht ganz einfach. Plaschka jongliert mit zahlreichen Perspektiven, biedert sich sprachlich keinem Massengeschmack an, während der Text wiederum nicht bei einem so genannten Highbrow-Verlag erscheint, der den Vorteil hätte, dass seine (zugegeben dafür wenigen) Leser eigentlich alles schlucken, auf dem der Stempel „intellektuell“ prangt. Und auch Buchpreisjurys werden dieses Werk deshalb wohl ignorieren. Schade, aus der diesjährigen Longlist zum Deutschen Buchpreis würde Wächter der Winde herausragen.
Drei Nachträge noch:
1) Manch einer wird die überraschende Wandlung zum Schluss, in der King sich von der Rüstungsindustrie und der Atomkraft lossagt, um Ross‘ Traum der regenerativen Energien zu verwirklichen, für zu dick aufgetragen halten. Zumal King schon wieder von gigantischen Renditen schwärmt. Aber: Wenn der Staat die Rahmenbedingungen schafft (zeitweise hatte er das in der Vergangenheit), dann sind in den regenerativen Energien tatsächlich große Renditen möglich. Nun höre ich die Rechten schon wieder grummeln: „Ahhh, Sozialismus also.“ Bedenkt: Die Rüstungsindustrie und wahrscheinlich auch die zivile Atomkraft würden ohne staatliches Engagement gleich gar nicht oder in viel geringerem Maße existieren. Eine Wirtschaft ohne staatliche Seite ist bis heute rein libertäre Fiktion, was nicht zuletzt der Anstieg der amerikanischen Staatsschulden unter pepublikanischen Regierungen Mal um Mal eindrucksvoll demonstriert. Tatsächlich bewegt sich King von reiner Arbeit für den Staat in Richtung eines deutlich freieren, wenn auch subventionierten Marktes.
2) Ist der Name Ross Perrault nur ein Anklang an Prospero, oder soll auch auf den meinungsstarken US-Unternehmer und früheren Präsidentschaftskandidaten Ross Perot angespielt werden? Der scheint mir allerdings im Großen und Ganzen so ziemlich das Gegenteil vom Buch-Ross zu sein. Falls ja, verstehe ich die Anspielung nicht.
3) Die Karte dieser unkarthographierbaren Traumwelt im Anhang: Verlagspolitik oder geniale Satire auf den Drang, jedem Fantasy-Buch eine Karte anzuhängen?
Bild: Pixa, gemeinfrei
Hallo,
mit Neuerzählungen habe ich sehr gemischte Erfahrungen. „Macbeth“ von Jo Nesbø hat mich zum Beispiel unsäglich enttäuscht. Vielleicht stehen hier deswegen noch ein paar der Hogarth-Bücher ungelesen, obwohl ich sie mir extra im englischen Original angeschafft habe…
Mein Problem beim Lesen ist oft, dass ich einerseits versuche, die Parallelen zu entdecken, und andererseits, dem Buch als eigenständigem Werk Raum zu geben, und das klappt nicht immer. Diese Neuerzählung klingt interessant, die werde ich mir auf jeden Fall mal näher angucken.
LG,
Mikka
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