Die Edda ist ein faszinierendes Stück Literatur. Obwohl wahrscheinlich in einer Art und Weise von ihren Kompilatoren homogenisiert, von der man sich noch längst nicht genug Rechenschaft ablegt, hat sie wenig mit dem gemein, was man sich allgemein vorstellen mag, wenn man hört „Nordisches Epos“: So dicht, so brüchig, so verschlüsselt sind die einzelnen Gedichte, dass das Herausstellen von Sinn und Zusammenhängen sich als faszinierendes Rätselspiel erweist. Die Prosa-Edda ist kohärenter, aber, sind wir ehrlich, auch langweiliger und ein weiteres Mal im Sinn des Christentums glattgebügelt.
Alte neue Nacherzählung
Der Piper-Verlag hat nun die gemeinsame Übersetzung von Hans Magnus und Tanqil Enzensberger der Edda-Nacherzählungen von Tor Åge Bringsværd digital neu herausgegeben. Soweit ich das beurteilen kann ein gelungenes Projekt: Manchmal ist der Text sich stilistisch ein wenig sehr kindgerecht (was sich mit den Inhalten beißt), doch die Art, wie die Geschichten zu einer literarische relativ spannend gestalteten Chronologie rekompiliert werden, wobei aus Quellen in und rund um beide Eddas geschöpft wird, überzeugt. Das liegt natürlich auch im Stoff begründet: Die Geschichten dieser all zu menschlichen Götter, Riesen und Trolle, alle längst nicht so rau wie man sie sich oft vorzustellen geneigt ist, überraschend feinsinnig an mancher Stelle gar, faszinieren nicht umsonst seit vielen 100 Jahren. Besonders der als rastlos wissen Wollender ausgestaltete Odin, Zweifler, Entdecker, Detektiv, niemals aber „Krieger“. Tor Åge Bringsværd verwebt geschickt lose Fäden, und die Enzensbergers geben sich sprachlich alle Mühe, einfach, modern und dennoch einer fernen Vergangenheit gerecht zu bleiben. Freilich handelt es sich bei Die Wilden Götter dann auch um eine Homogenisierung der mindestens dritten Stufe. Denn: Schon was in der Snorra-Edda steht dürfte weit mehr sein als einfach eine Wiedergabe dessen, was in der vorchristlichen Zeit hoch im Norden geglaubt wurde. Man vergisst es so leicht: Bereits die Skalden ab dem 9. Jhdt waren christianisiert, ebenso wiederum die Kompilatoren des späteren Edda Textes. Ich zitiere aus meiner älteren Recherche zum Thema:
„Aus all dem ergibt sich für mich: Man sollte, wenn man auf Basis der Edda über nordische Mythologie schreibt nicht referieren, als gebe man Auskunft über ein vorchristliches Glaubenssystem, dessen Form größtenteils feststeht. Sondern vielmehr so, als bespreche man einen fiktionalen Text, der aus Fragmenten einer Sagenwelt, die mehrfach zuvor schon in vielfältigem auch christlichen Kulturkontakt umgeformt oder überhaupt erst geformt wurde, erdichtet ist.
Beispielsweise sollte der Wikipedia Artikel über Odin ähnlich aussehen wie der über Teutates. Er sollte auflisten, was wir anhand von archäologischen Fundstücken und eindeutig vorchristlichen Quellen über regionale Formen der Verehrung dieses Gottes wissen. Ein zweiter Teil des Artikels könnte dann „Odin in der Edda“ heißen, und den Großteil des bisherigen Artikels enthalten. Gerade so, wie wir den Sokrates der Dialoge Platons nicht mit dem historischen verwechseln, und aus den hochmittelalterlichen Artusromanen nicht unmittelbar auf einen möglichen Heerführer des 6. Jahrhunderts schließen.“
Schöne Lektüre – auch ans Original trauen!
Das soll bei der Lektüre nicht stören. Im Nachwort aber geht Enzensberger mit dieser Problematik vielleicht etwas sorglos um. Auch die Hoffnung, auf diese Weise vielleicht ein wenig dem Rechtsradikalismus die Mythologie streitig machen zu können, dürfte sich kaum erfüllen. Erstens kommt der heute fast ohne Germanenkult aus, zweitens werden überzeugte Nazis dieses Buch kaum lesen. Drittens diente die Edda solchen Mythologisten immer vor allem als Steinbruch. Mit ihrer komplexen Dichtung voller Widersprüche sollte die sich, komplett genommen, gegen rechte Vereinnahmung sperren. Diese sei dann auch ernsthaft den Lesern von Die wilden Götter zur Lektüre ans Herz gelegt. Einen Eindruck von der Kraft der Verse kann man sich gut in der alten (gemeinfreien) Simrock-Übersetzung machen.
Odin’s_Self-sacrifice_by_Collingwood – gemeinfrei