Kafka am Strand / Dr. Murakami und Mr. Night – Das Murakami Projekt

Von Stil und Anlage her ist Kafka am Strand einer der Murakamis, die regelmäßig ausgedehnte Fremdschamorgien versprechen. Mäandernde Plots voller Innenschau, eine eher beschauliche als städtische Atmosphäre und, was im Fall Murakamis sozusagen die wörtliche Übersetzung von Innenschau ist: ausgedehnte Beschäftigung mit Ejakulat und (in diesem Fall Teenager-) Penissen (der korrekte Plural übrigens: Penes)

Bisheriger Stand des Murakami-Projekts:
After Dark: Einer der besseren bis besten
Romane die ich je gelesen habe.

Wind: Recht cool für ein Debüt
1Q84: Yeah, Lets not talk about it…
Dance Dance Dance: Wie After Dark,
aber geschwätziger

Dr. Murakami und Mr. Night

Murakamis Werk zerfällt, soviel bin ich mittlerweile bereit zu sagen, in zwei ganz unterschiedliche Typen von Romanen: Coole, düstere, relativ dichte fantastische Mysterien einerseits; und gequält-philosophische Innerlichkeit andererseits, voller klebriger Sexphantasien und aufbauender „akzeptiere die Welt“-Messages. Ich möchte diese fortan zwei Autoren-Persönlichkeiten zu schreiben. Dr. Murakami (eine Inkarnation Dr. Sommers) und Mr. Night.

Kafka am Strand ist definitiv ein Dr. Murakami. Aber: Er macht dafür erstaunlich viel Spaß. Immerhin, eine ewige Idealgeliebte, auf die das Bild der Traumfrau projiziert wird, spielt diesmal nur eine untergeordnete Rolle. Dafür sind die drei Handlungsstränge (der Rest des Netzes spricht von zwei, aber da der Ohnmachtsplot und der Nakataplot erst mit der Zeit verknüpft werden, sollte man strukturell von dreien sprechen) tatsächlich recht interessant, auf gute Weise skurril, und in zwei von drei Fällen sogar trotz quälender Längen recht spannend. Der Roman folgt den Abenteuern des ausgerissenen Kafka Tamura, der eines Tages mit Blut auf dem Hemd erwacht ist und versucht den ödipalen Fluch zu fliehen, er werde dereinst seinen Vater töten und mit der Mutter schlafen1. Dann den Ermittlungen des geistig eingeschränkten Nakata, dessen Fähigkeit mit Katzen zu sprechen ihn zu einem herausragenden Haustierdetektiv macht. Schließlich untersucht Kafka am Strand in Rückblenden einen Vorfall, bei dem eine Gruppe Kinder aus mysteriösen Gründen in Ohnmacht fiel.
Mit der Zeit wird der Knoten zwischen den Handlungsfäden dichter geknüpft, und das geschieht auf durchaus befriedigende Weise – wenn auch Murakami einmal mehr das Interesse an seinem anfänglichen Haupträtsel zu verlieren scheint und stattdessen neue metaphysische Figuren und Ereignisse erfindet, wie er gerade Lust hat2. Der Nakata-Plot ist sogar phasenweise richtig anrührend und einige Male auch verdammt lustig. Allerdings stürzt ausgerechnet der dann heftig ab, als mit Colonel Sanders einer dieser Murakami-Chraktere eingeführt wird, die ein „Prinzip“ verkörpern sollen, was natürlich nicht gelöst wird, indem das Prinzip durch die Handlung spürbar gemacht wird, sondern indem Sanders sich ausschweifend selbst erklärt. Das ist etwa, als predigte Goethes Mignon bei jeder sich bietenden Gelegenheit dem Leser ihre eigene symbolische Bedeutung.

Das Sex-Problem, aufgedröselt.

Um auch mal ein wenig zu predigen: Kafka am Strand ist auch ein schönes Demonstrationsobjekt dafür, was ich am Sex bei Murakami auszusetzen habe. Es ist ja nicht nur die Fixierung auf Ejakulat, die anscheinend unglaublich wichtige Frage, mit welcher Intensität wohin ejakuliert wird usw, die sich einfach absolut unangenehm liest, das hat so etwas gleichzeitig kindisches und altherrenhaft verdruckstes. Aber wäre das ein Mittel, um bestimmte Charaktere zu charakterisieren, ihr Verhältnis zur Sexualität auszuleuchten, ginge das absolut in Ordnung. Doch egal wer bei Murakami über Sex nachdenkt, es ist immer das Gleiche. Der Schriftsteller Tengo, der toughe Jornalist aus Dance, der Nachtklubunternehmer aus Gefährliche Geliebte. Und, Case in Point, die Lehrerin aus Kafka am Strand, die in einem offiziellen Brief an das Militär Passagen wie die folgende schreibt:

„Ich erwachte in der Dämmerung mit ganz eigenartigen Gefühlen. Mein Körper war schwer wie Blei, und in mir spürte ich noch das Geschlechtsteil meines Mannes. Mein Herz hämmerte, und ich keuchte. Meine Vagina war feucht wie nach einem Geschlechtsverkehr. Diese Empfindungen waren so deutlich und real, als hatten wir uns nicht nur im Traum, sondern in Wirklichkeit geliebt (…) Auch unterwegs auf dem Bergpfad spürte ich noch Nachwirkungen des Geschlechtsverkehrs. Wenn ich die Augen schloß, spürte ich, wie mein Mann in mir ejakulierte. Ich spürte, daß an den Wänden meines Uterus die Samenflüssigkeit meines Mannes haftete.Bei diesem Gefühl verlor ich beinahe den Kopf. (…)

Dazwischen erklärt sie dann aber: „Es ist mir peinlich, davon zu sprechen, aber ich masturbierte.“

Ernsthaft? Diese eine Detail ist ihr peinlich??? Wäre sie sonst in irgend einer Weise verschämt, hätte sie sich das ganze detaillierte Gerede über Sex bis zu den Details über die Feuchtigkeit ihrer Vagina ja auch einfach sparen können. Für den Brief ist zwar relevant, dass sie den Sextraum und später ihre unerwartete Menstruation verschwiegen hat, der Rest ist aber absolut unwichtig. Und es ist auch nicht so, dass Murakami den Widerspruch entfaltet, die Lehrerin könne zwar detailliertst über Sex reden, nicht aber über Masturbation – der Charakter und diese besondere psychologische Eigenschaft haben in der Folge genau Null Bedeutung, sie waren nur dazu da, Hintergründe zum Mysterium der ohnmächtigen Kinder zu liefern.

Abseits vom solchen Unwuchten ist Kafka am Strand durchaus ein relativ lesenswerter Dr. Murakami, kurzweilig in jedem Fall. Persönlich ziehe ich die Werke von Mr. Night vor. Generell würde ich dem Autor empfehlen, einmal auf jegliche Darstellung von Sex zu verzichten. Dessen Bedeutung für Handlung und Charakterisierung ist meist minimal und die Szenen lesen sich entweder, als seien sie für den Markt auf Effekt getrimmt oder tatsächlich unkontrollierte Ausflüsse der Fantasie des Autors.

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1Was natürlich geschieht. Spoiler? Quatsch. Als ließe Murakami sich die Chance entgehen einen 15jährigen seiner 50jährigen Mutter ins Bett zu lotsen… Mit der Schwester geht es auch noch zur Sache.

2Überhaupt ist Murakami einfach ein schrecklich nachlässiger Schriftsteller. Es lassen sich grob gesprochen wohl drei Arten von Rätsel in Texten ausmachen. Gesellschaftliche (zB warum werden Menschen Monster?) Physische ( wie kam es zur Situation x?) und metaphysische ( was ist die Bedeutung von y?) – Erstere und Letztere nicht gänzlich aufzuklären ist nicht nur akzeptabel, sondern in bestimmten Fällen das einzig Richtige. So ist es noch ganz folgerichtig, wenn in After Dark die Schläger nicht zur Rechenschaft gezogen werden: Die Verhältnisse, sie sind nicht so. In Kafka am Strand dagegen wirken die unbefriedigenden Antworten auf Fragen, die der Text stellt oft eher wie – huch, ein blaues Auto!

Liebe Leser, geht es euch gerade auf die Nerven, dass ich den Gedanken nicht weiterführe? Dann sind die Romane von Dr. Murakami wahrscheinlich nichts für euch…

Ok, ich versuche das Problem begreiflicher zu machen, in dem ich noch einmal den Herrn Goethe bemühe. Hätte Murakami Faust geschrieben, es wäre absolut denkbar, dass Mephisto gegen Mitte des Stückes als Roboter von einem anderen Stern enthüllt würde. Allerdings: Ohne dass bis dahin ein Wort am Faust geändert würde. Es gäbe also keine vorherigen Hinweise auf die Robotereigenschaft des Mephisto. Sie würde aus dem Hut gezaubert und fortan behauptet. In der Kerkerszene dann würde der Roboter vielleicht die Hosen fallen lassen, und aus seinem Hintern käme eine gigantische hellrote Gaswolke, die „von Hass geformt ist aber in der Gestalt der Liebe erscheint“. Der Autor würde uns das nicht etwa durch die Geschichte vermitteln, so dass wir das Liebe/Hass-Ding gedanklich selbst erschließen müssten, sondern irgend eine Figur, vielleicht Mephisto selbst, vielleicht Grete, vielleicht Mephistos Hintern oder ein zufällig anwesender Papagei würde uns die Szene schon geschwätzig theoretisch auslegen, keine Sorge. Allerdings ist es durchaus möglich, dass das ein wenig untergeht, weil Faust sich derweil in eine Ecke des Kerkers verzogen hat, seinen Penis ausgepackt und nun interessiert seine Eichel betrachtet, wobei besondere Akribie auf die Beschreibung der Farbverläufe vom Rand zur Mitte verwandt wird. Natürlich ohne dass das in irgendeiner Weise uns näheres über Faust verrät, außer dass er gerne seinen Penis auspackt – in Faust II, in dem Mephisto übrigens kein Roboter mehr ist sondern ein Kind im Körper eines Mannes, der aus der Zukunft kommt aber auch aus der Vergangenheit, was das gleiche ist, was er uns wiederum in einem langen Monolog erklärt, ist Faustens Penisfixiertheit ohne Bedeutung für die Handlung, sein Penis hat aber noch 7 Auftritte.

9 Kommentare zu „Kafka am Strand / Dr. Murakami und Mr. Night – Das Murakami Projekt

  1. Ich freue mich schon, auf deine weiteren Murakami-Rezensionen, denn ich weiß bei ihm nicht, womit ich mit dem Lesen von ihm anfangen soll.
    Dieser Roman klingt allerdings wirklich…….seltam :D Wieso diese Fixierung auf Ejakulat und Penes usw.? (Übrigens netter Hinweis mit der Pluralform; wusste ich noch nicht).

    Bin jedenfalls gespannt auf die nächsten Rezensionen.

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    1. Also ich würde entweder chronologisch vorgehen, Wind/Pinball/Sheep/Wonderland sind alle mindestens OK, oder mit After Dark anfangen – das allerdings ander ist als alle anderen. Alternativ Wonderland, das ist schon recht „typisch“ aber noch ohne diese krassen Übertreibungen. Eine Daumenregel scheint zu sein „Je mehr Seiten, desto Penis“

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      1. Okay, danke für die Infos! Dann werde ich die in die engere Auswahl nehmen und mal gucken, welcher Klappentext mir eher zusagt.
        Bin schon auf die nächste Murakami-Rezension gespannt.

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